Rhein-Neckar. Die Gastro-Branche schlägt Alarm. Rund 12 000 Betriebe müssen nach Angaben des Lobbyverbands Dehoga aufgeben, wenn der Mehrwertsteuersatz für Speisen in Restaurants zum Jahreswechsel wieder auf 19 Prozent erhöht wird. Friedrich Heinemann, Steuerexperte am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim (ZEW), hält diese Zahl für völlig übertrieben. Und fordert die Bundesregierung auf, die Umsatzsteuersenkung auf sieben Prozent nicht erneut zu verlängern. Heinemann begründet dies mit den Ergebnissen einer aktuellen ZEW-Studie, die er mitverfasst hat.
Hilfe in der Pandemie
Zur Erinnerung: Die Bundesregierung hatte die Mehrwertsteuersenkung 2020 als vorübergehende Hilfe für die Gastronomie in der Pandemie beschlossen. Nach derzeitigem Stand wird diese Regelung Ende 2023 auslaufen. Die Subvention kostet die Steuerzahler gegenwärtig nach Schätzung des ZEW rund drei Milliarden Euro pro Jahr und würde mit den zu erwartenden Umsatzzuwächsen der Branche kontinuierlich steigen. Auf etwa 38 Milliarden Euro im nächsten Jahrzehnt. „Diese Summe müsste durch höhere Steuern an anderer Stelle oder Ausgabenkürzungen gegenfinanziert werden“, heißt es in der Studie. Eine Annahme, die einleuchtet, denn die Schuldenbremse zwingt die Regierung zur Disziplin. Der Finanzminister hält seine Kabinettskollegen auf Diät.
Heinemann begründet im Gespräch mit dieser Redaktion, warum er die Zahlen der Dehoga für übertrieben hält. „Vor allem in den Großstädten ist die Gastronomie wieder in einem guten Zustand“, sagt er. Die Besuchszahlen seien hoch und das bei deutlich gestiegenen Preisen.
„Obwohl die Mehrwertsteuer gesunken ist, haben die Wirte die Preise stärker erhöht als die Inflationsrate. Ich glaube deshalb nicht an eine große Pleitewelle. Die Margen sind bei vielen ausreichend groß, da ist Spielraum da“, so Heinemann. Der Wissenschaftler weist auch darauf hin, dass der Staat die Mehrwertsteuer für die Gastronomie auch deshalb gesenkt hat, weil sie mit hohen Energiekosten zu kämpfen hatte. „Dieser Grund ist jetzt teilweise entfallen. Die Preise für Strom und Gas sind wieder gesunken. Das hat in der Gastronomie für weitere Entlastung gesorgt“, sagt Heinemann.
Und was ist mit dem Kneipensterben auf dem Dorf, wird sich dies nicht noch verschärfen, wenn die Steuersubvention wegfällt? „Ich glaube, dass es dafür andere Gründe gibt. Das Kneipensterben hat nicht aufgehört, als die Mehrwertsteuer gesenkt wurde“, widerspricht Heinemann.
Kulturgut Kneipe?
Gehören Restaurants nicht zum Kulturgut und müssen bewahrt werden? „Steuersubventionen müssen mit substanziellen inhaltlichen Argumenten begründet werden, für die es noch dazu überzeugende empirische Belege gibt“, zitiert er aus der Studie. Beide Argumente sind demnach für das „Kultur-Argument“ der Gastronomie „nicht einmal ansatzweise erfüllt“. Die Studie sieht auch deshalb keine Rechtfertigung für eine dauerhafte Subventionierung, weil die Post-Pandemie-Zeit auch anderen Branchen einen Strukturwandel zumutet, diese aber keine staatliche Förderung erhalten.
Zwar würde die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten den ermäßigten Steuersatz anwenden, es gebe da aber keinen Nachteil im internationalen Wettbewerb, weil gastronomische Dienstleistungen ja ortsgebunden seien. Wenn aber im nächsten Jahr die Preise in der Gastronomie wieder steigen, können sich ärmere Haushalte den Restaurantbesuch vielleicht nicht mehr leisten. Dieses Argument dreht Heinemann um. „Von der gesenkten Mehrwertsteuer haben die wohlhabenden und kinderlosen Haushalte überproportional profitiert, ärmere Haushalte gehen dagegen seltener ins Restaurant“, sagt Heinemann.
Wer den ärmeren Haushalten helfen will, könne das Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung erhöhen. „Das wäre zielgenauer und keine Subvention zugunsten der Reicheren“, sagt Heinemann. Eine Ausnahme schlägt das ZEW gleichwohl vor. „Stichhaltig sind die Argumente für einen ermäßigten Steuersatz hingegen möglicherweise für die gastronomische Versorgung von Schulen und Kindergärten.“ Das ZEW nennt „verteilungspolitische Argumente“ wie etwa die „zielgenauere Begünstigung ärmerer Haushalte“ und der „Beitrag zur Vereinbarkeit von Beruf und Elternschaft“.
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