Interview

Ressourcen zur Flüchtlingsunterbringung im Main-Tauber-Kreis fast erschöpft

Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, steigt. Damit werden auch dem Main-Tauber-Kreis mehr und mehr Asylsuchende zugewiesen. Über die Situation vor Ort sprachen die FN mit Landrat Christoph Schauder.

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Heike von Brandenstein
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Eine syrische Flüchtlingsfamilie in ihrem Wohnbereich in einer Flüchtlingsunterkunft.. © Peter Endig/dpa

Main-Tauber-Kreis. Längst ist eine Auseinandersetzung um den Umgang mit Flüchtlingen entbrannt. Das Thema polarisiert und ist – verfolgt man die Stellungnahmen in Bundestagssitzungen – Wasser auf die Mühlen derer, die einfache Antworten auf komplexe und vielschichtige Fragestellungen geben. Auch vor Ort machen sich die Verantwortlichen Gedanken.

Sorgen bereiten Landrat Christoph Schauder die wachsenden Flüchtlingszahlen schon seit geraumer Zeit. Durch steigende Zuweisungen werden die Unterkünfte knapp, Containerstandorte entstehen. Hinzu kommen die Herausforderungen der Integration, wobei es nicht nur um Sprachkurse geht, sondern auch um Kindergarten- und Schulplätze bei ohnehin fehlendem Personal. Der Landrat kennt die Probleme der Gemeinden und Kommunen, appelliert aber an die Bevölkerung, nicht auf einfache populistische Antworten zu setzen, sondern das Thema differenziert zu betrachten.

Herr Schauder, die meisten Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, machen sich aus Syrien auf den Weg, an zweiter Stelle stehen in der Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Türkei an dritter Afghanistan. Spiegelt sich diese Reihenfolge auch im Main-Tauber-Kreis wider?

Christoph Schauder: Ja, das kann ich bestätigen. Die Türkei ist in der Tat eines unserer Hauptzugangsländer. Das hat wahrscheinlich mehrere Gründe: politische und wirtschaftliche. Hinzu kommt noch das starke Erdbeben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens vom Februar, bei dem eine riesige Region zerstört wurde.

Bei der letzten Kreistagssitzung haben Sie von 60 bis 70 Flüchtlingen gesprochen, die dem Main-Tauber-Kreis monatlich zugewiesen werden. Wie sieht die Situation momentan aus?

Schauder: Wir reden nicht mehr von 60 bis 70 Flüchtlingen pro Monat, sondern es kommen momentan rund 100 Personen monatlich zu uns. Das ist der Schnitt von August bis jetzt. Wir müssen sogar mit einem weiteren leichten Anstieg rechnen. In absoluten Zahlen heißt das für das laufende Jahr bis zum Oktober: Insgesamt sind 738 Menschen über den klassischen staatlichen Strang zu uns gekommen. Das sind Menschen, die nach der Erstaufnahme durch das Land nun in der vorläufigen Unterbringung leben, die wiederum in der Verantwortung des Landkreises liegt. Wir gehen davon aus, dass wir bis zum Jahresende die Zahl 900 erreichen werden. 2022 haben wir 646 Personen gezählt. Es handelt sich also um einen deutlichen Anstieg.

 Sie betonen immer, dass der Zugang in den Main-Tauber-Kreis höher ist als in den Jahren 2015/16. Liegt das an den Menschen aus der Ukraine?

Schauder: Ja, ganz klar. Der Großteil der ukrainischen Kriegsflüchtlinge ist nicht über den staatlichen Strang zu uns gekommen. 75 Prozent sind privat bei Freunden, Bekannten oder durch Ehrenamtsinitiativen untergekommen. Zum Stand 3. November dieses Jahres waren mehr als 2100 Personen aus der Ukraine hier im Landkreis registriert. Etwas weniger als 500 sind über den staatlichen Weg zu uns gekommen. Jetzt kann man folgende Rechnung aufmachen: Die Gesamtzahl 646 aus dem Jahr 2022 plus die Gesamtzahl bis zum Oktober aus dem laufenden Jahr mit 738 und zusätzlich rund 1600 geflüchtete Menschen aus der Ukraine, ergibt in der Gesamtschau rund 3000 geflüchtete Menschen, die seit Januar 2022 bis jetzt in den Landkreis gekommen sind.

Zum Vergleich: Wie viele sind 2015/16 in den Main-Tauber-Kreis gekommen?

Schauder: 2015 waren es 1035 Personen, 2016 waren es 634 Menschen. In der Summe waren das 1659 Personen.

Schon seit Monaten sagen Sie, dass es problematisch ist, die Leute unterzubringen. Wie lange reichen die Kapazitäten?

Schauder: Die aktuelle Kapazität liegt bei genau 935 Plätzen. Da ist an der einen oder anderen Stelle eine Nachverdichtung möglich. Wenn wir mit 900 Menschen bis zum Jahresende rechnen, bekommt man ein Gefühl dafür, wie knapp die Ressourcen sind. Wir sind kurz vor der Vollauslastung.

Und dann? Müssen Notunterkünfte in Schulturnhallen geschaffen werden?

Schauder: Das wollen wir nach Möglichkeit verhindern. Es ist ja bekannt, dass wir in Königheim eine Containeranlage implementieren, die, wenn alles gut läuft, Ende Januar, Anfang Februar in Betrieb gehen kann. Aktuell haben wir vor, eine Containeranlage mit rund 60 Plätzen in Werbach im ersten Quartal 2024 zu erstellen. Der Bauantrag ist schon eingereicht und liegt der Gemeinde vor. Darüber hinaus haben wir noch Containeranlagen in Unterwittighausen und in Weikersheim in Betrieb. Klassische Festbauten bestehen in Tauberbischofsheim, Külsheim, Königshofen, Gerlachsheim und Bad Mergentheim. Diese insgesamt 935 Plätze in Containern und Festbauten sollen uns über den Jahreswechsel bringen. Aber es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass ich nicht versprechen kann, dass alles gut geht.

Wenn nicht, aus welchen Gründen auch immer, bedeutet das im Umkehrschluss, dass doch Notunterkünfte – etwa in Turnhallen – eingerichtet werden müssen?

Schauder: Als Ordnungsdezernent hatte ich die Flüchtlingskrise 2015/16 im Rhein-Neckar-Kreis zu meistern. Da waren zeitgleich 2500 Männer ganz unterschiedlicher Nationalitäten in verschiedenen Objekten wie Hallen oder ehemaligen Gewerbeimmobilien untergebracht. Das hat mich fürs Leben geprägt. Notunterkünfte sind hochproblematisch, weil es keinerlei Privatsphäre gibt. Deshalb versuchen wir, Notunterkünfte so lange wie möglich hinauszuzögern. Außerdem hätte es Auswirkungen auf den Schul- und den Vereinssport, was mir in der Seele wehtun würde. Schulen und Vereine haben in der Corona-Pandemie genug gelitten. Aber natürlich kommen wir unserer gesetzlichen Aufgabe der Unterbringung ohne Wenn und Aber nach.

In Tauberbischofsheim gibt es noch das alte Haus Heimberg. Wäre das ein Objekt zur Flüchtlingsunterbringung?

Schauder: Die Kreisstadt Tauberbischofsheim ist bei der vorläufigen Unterbringung mit über 300 Plätzen die am stärksten belastete Kommune im Landkreis, gefolgt von der Großen Kreisstadt Bad Mergentheim mit knapp unter 300 Plätzen. Für eine Stadt wie Tauberbischofsheim, die in der Kernstadt rund 8400 Einwohner aufweist, ist das schon eine hohe Belastung. Denn es geht nicht nur um die Unterbringung, sondern auch um Kindergarten- und Schulplätze und um Einkaufsmöglichkeiten. Etwas mehr als 300 Menschen bedeutet fast die Größe eines Teilorts wie Dienstadt. Zum alten Haus Heimberg: Die Immobilie ist höchst problematisch. Es gibt Wasserrohrbrüche, so dass es nicht vertretbar wäre, das Haus in einem akzeptablen Kostenrahmen bezugsfähig herzurichten.

Kriegsflüchtlinge werden aller Voraussicht nach länger als zwei Jahre hierbleiben und müssen dann spätestens in die kommunale Anschlussunterbringung wechseln. Was hören Sie von den Bürgermeistern, mit denen Sie in engem Kontakt stehen?

Schauder: Die Städte und Gemeinden sind schon jetzt am Limit. Wenn die Asylverfahren früher abgeschlossen werden, können Menschen auch schon vor Ablauf von 24 Monaten in die kommunale Anschlussunterbringung wechseln. Gleiches gilt für Ortskräfte, Kontingentflüchtlinge oder Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die jeweils bereits nach sechs Monaten wechseln können. Das verschärft die Situation noch und stellt die Städte und Gemeinden vor eine große Herausforderung.

Bund und Länder haben sich Anfang November zum Asylgipfel getroffen. Für Angehörige aus Staaten, deren Anerkennungsquote unter 5 Prozent liegt, sollen die Asylverfahren binnen drei, für alle anderen in sechs Monaten abgeschlossen sein. Ist das überhaupt realistisch?

Schauder: Nach den Erfahrungen scheint es mir ein sehr ambitioniertes Ziel zu sein. Alle Akteure, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zu den Verwaltungsgerichten und dem Petitionsrecht, arbeiten mit den Gesetzen, die der Gesetzgeber beschließt. Das Ziel der Verkürzung ist nur dann zu erreichen, wenn die eine oder andere Rechtsschutzmöglichkeit eingeschränkt wird. Denn Widersprüche ziehen sich hin. Momentan geht es auch nicht mehr um Integration, sondern nur noch um die Frage, wie wir die Menschen unterbringen können. Eine Lösung, wie die Anfang 2016 geschlossene EU-Türkei-Vereinbarung, ist derzeit nicht in Sicht.

Wie kann dieses Dilemma gelöst werden?

Schauder: Das wird nur gehen, wenn die Bundesrepublik Deutschland als Fluchtland weniger attraktiv wird als bisher. Der Rechtskreiswechsel für ukrainische Flüchtlinge war ein Fehler. Damit hat man geflüchtete Menschen erster und zweiter Klasse geschaffen, denn das Bürgergeld unterschiedet sich signifikant von den Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Damit wurde auch eine gerechte Verteilung in der Europäischen Union ad absurdum geführt. Untermauern kann ich das durch einen Fakt: Baden-Württemberg hat mit seinen elf Millionen Einwohnern mehr geflüchtete Menschen aus der Ukraine aufgenommen als ganz Frankreich zusammen. Zumindest für neu Ankommende aus der Ukraine sollte man den Rechtskreiswechsel wieder rückgängig machen.

Wie schnell könnte das umgesetzt werden?

Schauder: Um es mit einem historischen Zitat zu sagen: Das könnte unverzüglich, sofort der Fall sein. Aber offenbar gibt es dafür einheitliche Meinung in der Bundesregierung. Außerdem müsste man prüfen, ob die Leistungen für Asylbewerber gemessen an den Standards in anderen europäischen Ländern, angemessen sind. Auch das Thema Bezahlkarte geht in die richtige Richtung. Wir müssen auch an die Themen Familiennachzug, Rückführung und Ausweisung in sichere Herkunftsländer ran. Ferner müssen wir uns mit der Frage befassen, ob es möglich ist, in Drittländern Asylverfahren durchzuführen, was rechtlich durchaus heikel ist. Und wir brauchen nationale Ankunftszentren. Es muss gewährleistet sein, dass nur noch Menschen mit Bleibeperspektive in die Landkreise, Städte und Gemeinden kommen. Ohne eine Verschärfung der Maßnahmen, bekommen wir diese Lage nicht in den Griff.

Bei Ankunftszentren denkt man an lagerähnliche Zustände und hat sofort die katastrophalen Bilder von Lesbos im Kopf. Wie stellen Sie sich solche Einrichtungen vor?

Schauder: Den Begriff Lager würde ich nicht verwenden, denn da hat man in der Tat gleich fürchterliche Bilder im Kopf. Wir haben 2015/16 unter Beweis gestellt, dass man auch in prekären Situationen Menschen menschenwürdig unterbringen kann.  Vor diesem Hintergrund wäre es unproblematisch umsetzbar, Ankunftszentren in Grenznähe zu implementieren. Was man hierzu allerdings benötigt, ist der politische Umsetzungswille.

Bestünde in solchen Zentren nicht die Gefahr der Bildung von Parallelgesellschaften?

Schauder: Wenn man wie wir momentan kaum Kapazitäten hat, um sich um Integration zu bemühen, besteht diese Gefahr auch in der vorläufigen Unterbringung und in der kommunalen Anschlussunterbringung. Letztlich sollen sich Menschen auch nicht über Jahre in solchen Ankunftszentren aufhalten, sondern bei keiner Bleibeperspektive wieder zurückgeführt werden. Aber dazu fehlt meines Erachtens der politische Wille.

Wurden aus der Flüchtlingssituation 2015/16 zu wenige Lehren gezogen?

Schauder: Ja, ganz klar. Die mit viel Aufwand geschaffenen Strukturen wurden ab 2017 wieder zurückgebaut, so dass wir jetzt in vielen Bereichen wieder bei Adam und Eva anfangen. Wer meint, mit gesetzlichen Mitteln des 20. Jahrhunderts die neuen Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts in den Griff zu bekommen, verkennt die Lebenswirklichkeit.

Redaktion Zuständig für die Kreisberichterstattung Main-Tauber

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