Ukraine

Widerstand gegen die Besatzer

Gleich zu Kriegsbeginn fiel Cherson in die Hände der Invasoren. Die Bewohner geben den Kampf um ihre Freiheit aber nicht auf

Von 
Jan Jessen
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Fahrzeuge der russischen Besatzer patrouillieren in der Stadt. Sie tragen das „Z“, das Symbol für Russlands Krieg gegen die Ukraine. © Sergei Bobylev/picture alliance/dpa/TASS

Cherson. Die Bilder der Menschen, die für das russische Besatzungsregime arbeiten, landen immer wieder in den Briefkästen der verbliebenen Einwohner von Cherson. Nachts werden sie an Wände geklebt. „Du wirst der Nächste sein“, steht auf manchen. Auf anderen: „Verräter werden nicht überleben.“ Die Kollaborateure von Cherson haben Namen und Gesichter und sie leben gefährlich in der ukrainischen Regionalhauptstadt, die im März von den russischen Invasoren eingenommen wurde. Im Süden der Ukraine zeigt sich für Moskau, wie schwierig es ist, ein Besatzungsregime in einer zutiefst feindlich gesinnten Umgebung aufrechtzuerhalten. Für die Ukraine ist Cherson zu einem Symbol der Hoffnung geworden, weil hier in den vergangenen Wochen kleinere militärische Erfolge erzielt werden konnten. Die Botschaft ist: Der übermächtige Feind ist verwundbar.

In Cherson lebten vor dem Beginn des russischen Überfalls etwa 300 000 Menschen. In den ersten Kriegstagen fiel die Stadt nahezu kampflos an die russischen Truppen, die über die Fernstraße M17 von der seit 2014 besetzten Halbinsel Krim aus in die Region vorstoßen konnten, weil die militärische Führung der Ukraine katastrophale Fehler machte. In der Ukraine heißt es auch, Verrat könne Ursache für den raschen Fall der Stadt gewesen sein. Die Antoniwka-Brücke als das entscheidende Nadelöhr in die Stadt hinein war nicht rechtzeitig gesprengt worden.

Der spontan organisierte Widerstand einiger Einwohner der Stadt brach rasch zusammen. Protestkundgebungen von Bürgern wurden mit Tränengas und scharfer Munition auseinandergetrieben. Viele Menschen wurden an der Flucht aus der Stadt gehindert. Ein strategischer Fehler der Besatzer. Manche derjenigen, die in Cherson bleiben mussten, sind jetzt im Widerstand aktiv, der in den vergangenen Wochen immer wieder in der gesamten Region zugeschlagen hat.

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dpa
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Die ständigen Angriffe und die öffentliche Markierung von Kollaborateuren zeigen Wirkung. „Die Leute, die auf Russland gesetzt haben, haben angefangen, das ernst zu nehmen“, sagt Gustav Gressel, Militärexperte der Berliner Denkfabrik „European Council on Foreign Relations“.

Die Besatzer gehen brachial vor

Die Folge: Es melden sich weniger Menschen, die für die Besatzer arbeiten wollen. Moskau muss die ausgedünnten Stellen in den Verwaltungen mit eigenen Kräften füllen, häufig sind dies Kräfte des russischen Geheimdienstes FSB.

Zugleich versuchen die Besatzer, die Russifizierung der Region voranzutreiben. In den Schulen werden russische Lehrpläne eingeführt, Zahlungsmittel ist der Rubel, das Steuer- und Rechtssystem werden angepasst. Um den Widerstand zu brechen, gehen die Besatzer brachial vor. Razzien, Festnahmen, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Am 12. August wird die Leiche eines Mannes im Fluss Dnipro gefunden, sie weist Folterspuren auf. Wenige Tage zuvor gab der Fluss die Leichen zweier Aktivisten frei.

Nationalsymbole versteckt

„Vor ein paar Tagen haben die Russen mein Haus durchsucht und alles auf den Kopf gestellt“, berichtet Petr Zenenko. Zenenko ist ein Geschäftsmann aus Cherson. In den vergangenen Monaten hatte unsere Redaktion immer wieder Kontakt mit ihm, er hatte uns unter einem Pseudonym erzählt, was in Cherson vorgeht. Jetzt hat er es geschafft, aus der Stadt herauszukommen. „Ich hatte auf meine Frau gehört und alle ukrainischen Nationalsymbole in meinem Garten vergraben. Zum Glück haben sie nichts gefunden.“

Zenenko sagt, die Besatzer versuchten, das öffentliche Leben in Cherson zu regeln. „Aber niemand nimmt sie ernst.“ Das Internet funktioniere nur noch selten, weil die Okkupationskräfte es herunterdrosselten, damit sich niemand informiere. „Das Leben in Cherson ist dunkel. Es ist schlimmer als in den 90er-Jahren.“

Militärisch ein größeres Problem als die Attacken auf Kollaborateure oder Sabotageaktionen ist für die Besatzer, dass ukrainische Kräfte hinter den feindlichen Linien offenbar militärische Ziele ausspionieren und so präzise Artillerieschläge auf russische Kommandoposten, Waffenlager und Mannschaftsquartiere möglich machen. Außerdem mussten die russischen Streitkräfte bereits Truppen aus dem Osten in den Süden verlegen. „Schon vor dem Überfall hat sich das ukrainische Militär auf einen Guerilla-Krieg vorbereitet und ist von britischen und US-Spezialkräften entsprechend trainiert worden“, sagt Militärexperte Gressel. Das ukrainische Militär lerne jetzt, die Schwächen und Fehler der Russen auszunutzen. Für die von der ukrainischen Führung angekündigte Großoffensive scheinen jedoch noch die nötige Feuerkraft und gepanzerten Fahrzeuge zu fehlen.

Die Artillerieangriffe scheinen jedoch Wirkung zu erzielen. Laut ukrainischen Medienberichten haben russische Kommandeure ihre Kommandoposten am rechten Ufer des Dnipro bei Cherson verlassen und sich auf die andere Seite des Flusses zurückgezogen. Zudem sind nun alle strategisch wichtigen Brücken in der Region zumindest schwer beschädigt worden, was den russischen Nachschub enorm erschwert und dazu führen könnte, dass bis zu 12 000 russische Soldaten eingekesselt werden.

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