Paris. Wer ist Élisabeth Borne? Kennen die Menschen in Frankreich inzwischen mehrheitlich den Namen und das Gesicht ihrer Premierministerin, so wissen sie auch eineinhalb Monate nach ihrer Ernennung wenig über sie und ihre politischen Ziele. Als charismatische Rednerin gilt die ehemalige Top-Managerin, Verkehrs- und Arbeitsministerin nicht, eher als fleißige Technokratin und loyale Parteisoldatin von Präsident Emmanuel Macron. Am gestrigen Mittwoch war der Moment für sie gekommen, um aus dessen Schatten zu treten: Borne hielt ihre Regierungserklärung in der Nationalversammlung und anschließend im Senat.
Vor fünf Jahren hatte Macron just am Tag vor diesem wichtigen Auftritt des damaligen Premierministers Édouard Philippe selbst eine lange Ansprache vor den Abgeordneten beider Parlamentskammern im prunkvollen Schloss Versailles gegeben und Philippe so die Schau gestohlen. Nun überließ er Borne die Bühne.
Selbstbewusst trat die 61-Jährige auf, die sich nicht durch Zwischen- oder Buhrufe von manchen Abgeordneten der Opposition aus dem Konzept bringen ließ. Sie lade ein zu „neuen Praktiken, zu einem intensiven Dialog, zur aktiven Suche nach Kompromissen“. Am heutigen Donnerstag werde die Regierung Gesetzestexte zur Stärkung der Kaufkraft in den Ministerrat einbringen. Weiterhin müssten die Kosten für Elektrizität und Gas gedeckelt werden, ebenso wie die Mietpreise. Dank bisheriger Maßnahmen sei die Inflation in Frankreich die niedrigste in der Eurozone, so Borne. Als große Ziele bezeichnete die französische Premierministerin eine ambitionierte Umweltpolitik und das Erreichen der Vollbeschäftigung bis 2027.
Tumulthaft wurde es, als Élisabeth Borne das „Paradox“ ansprach, dass das französische Sozialmodell besonders großzügig sei, die Menschen zugleich aber früher in den Ruhestand gingen als in anderen Ländern. „Wir müssen nach und nach ein bisschen länger arbeiten“, forderte Borne. Sie stellte damit unter Beweis, dass sie und der Präsident nicht vom Ziel einer umstrittenen Rentenreform abgehen, deren Umsetzung in Macrons erster Amtszeit am Beginn der Coronavirus-Krise gescheitert war.
Traditionell folgt auf die Regierungserklärung eine Vertrauensabstimmung, verpflichtend ist dies jedoch nicht. Wie mehrere ihrer Vorgänger in den vergangenen Jahrzehnten verzichtete Borne darauf. Da der Regierungsfraktion seit den Parlamentswahlen im Juni die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung fehlt, erschien ein Scheitern zu riskant. Kaum ernannt, hätte die Premierministerin abdanken müssen. „Vertrauen lässt sich nicht verordnen, es wird geduldig Gesetz für Gesetz aufgebaut“, erklärte der neue Regierungssprecher Olivier Véran. Auch der neue Chef der republikanischen Abgeordneten, Olivier Marleix, nannte dieses Vorgehen „pragmatisch und normal“. Er erhoffe sich von Borne, dass die Regierung der Opposition künftig „ein wenig mehr zuhört“. In diesem Fall seien die Republikaner bereit, für bestimmte Gesetzestexte der Regierung zu votieren.
Eine andere Haltung nahm die radikale Linke LFI ein. „Frau Borne, man misshandelt die Demokratie nicht ungestraft“, schrieb die Chefin der LFI-Abgeordneten, Mathilde Panot. Das linke Bündnis Nupes aus LFI, Sozialisten, Grünen und Kommunisten stellte noch am Mittwoch einen Misstrauensantrag. Doch da bei der Abstimmung am Freitag weder Republikaner noch die Abgeordneten des rechtsextremen Rassemblement National dafür votieren wollen, dürfte der Vorstoß die notwendige Zweidrittel-Mehrheit verfehlen.
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