Paris. Nach tagelangen Ausschreitungen in französischen Städten und Vororten ist es ruhiger geworden, doch die Lage im Land bleibt angespannt. Um ein Wiederaufflammen der Unruhen zu verhindern, plant die Regierung ein landesweites Feuerwerksverbot am Nationalfeiertag, dem 14. Juli. Auch Damien Allouch, sozialistischer Bürgermeister der Stadt Épinay-sous-Senart, glaubt, dass die Krawalle jederzeit wieder ausbrechen können.
Herr Allouch, inwiefern war Ihre Gemeinde Épinay-sous-Senart von den Unruhen infolge des Todes des 17-jährigen Nahel durch einen Polizeischuss betroffen?
Seit 2020 im Amt
Damien Allouch (45) ist seit 2020 sozialistischer Bürgermeister von Épinay-sous-Senart mit 12 500 Einwohnern, gut 20 Kilometer südlich von Paris.
Die Kommune hat einen hohen Anteil an Einwohnern, die unter der Armutsgrenze leben. Vor seiner Wahl war Allouch bereits Mitglied im Departements-Rat. olz
Damien Allouch: Wir erlebten mehrmals in Folge heftige Ausschreitungen mit einem Höhepunkt in der zweiten Nacht, als junge Leute die Außenkameras der städtischen Polizei zerstörten und versuchten, das Kommissariat zu stürmen. Ich befand mich zu diesem Zeitpunkt mit einigen Mitarbeitern im Gebäude, und wir konnten es noch schnell verlassen. Andere öffentliche Einrichtungen wie Schulen oder das Kulturzentrum wurden bei uns nicht angegriffen, aber ein Supermarkt und eine Post geplündert und an mehreren Stellen Feuer gelegt. Unser Stadtreinigungspersonal war morgens sehr früh unterwegs, damit die Menschen auf dem Weg zur Arbeit möglichst wenig von den Zerstörungen in der Stadt mitbekamen.
Kennen Sie die Verantwortlichen für die Schäden oder die gelegten Feuer?
Allouch: Ja, natürlich sind mir diese jungen Leute bekannt und mit jedem Einzelnen gibt es auch kein Problem. Aber es entwickelte sich ein Phänomen der Gruppen-Gewalt, durch das sie sich mitreißen ließen. Mir ist es aber auch wichtig zu sagen, dass nun sehr viel über die 40 Personen gesprochen wird, die sich an den Krawallen beteiligten, aber nicht über die 1500 jungen Leute, die friedlich zuhause blieben.
Haben Sie Maßnahmen getroffen, um die Situation zu beruhigen?
Allouch: Ich habe eine nächtliche Ausgangssperre für Minderjährige verordnet. Mir war bewusst, dass sich die Krawallmacher nicht unbedingt daran halten würden, aber ich wollte ein Signal an die Eltern aussenden, damit sie den Ernst der Lage verstehen: Lasst eure Kinder nachts nicht mehr raus, um die Stadt zu terrorisieren! In der Folge war deutlich weniger los. Inzwischen ist wieder Ruhe eingekehrt, aber sie ist äußerst fragil. Es kann jederzeit wieder aufflammen.
Sie gehörten zu einer Gruppe von Bürgermeistern, die Ende Mai in einem offenen Brief an Präsident Emmanuel Macron vor der explosiven Situation in den Banlieues warnten und einen „Notfall-Plan“ forderten.
Allouch: Ich engagiere mich im Bürgermeister-Verein „Stadt & Banlieue Frankreichs“, in der Kommunen sehr unterschiedlicher Größe und Struktur vertreten sind. Uns allen war klar, wie angespannt die Lage in den sozialen Brennpunkten ist, wo die Menschen stark unter der Inflation leiden und teils ihre Miete nicht mehr bezahlen können. Seit Monaten forderten wir vom Präsidenten ein Konzept für die „Stadtviertel 2030“, also jener Viertel mit besonderem Entwicklungsbedarf. Schließlich ließ uns das Kabinett der Premierministerin wissen, dass Emmanuel Macron nach Marseille fahren und große Ankündigungen machen werde. Er sprach dort zwar über Verbesserungen bei der Schule, aber es fehlte eine Gesamt-Vision. Am nächsten Tag folgte der Tod von Nahel und die Unruhen brachen aus.
Was fordern Sie, um die Lage dauerhaft zu verbessern und neue Gewaltausbrüche zu vermeiden?
Allouch: Die Wohnungsfage ist zentral. In Frankreich gibt es Städte, die die gesetzliche Verpflichtung von 20 Prozent Sozialwohnungen missachten und lieber eine Geldbuße bezahlen als für soziale Durchmischung zu sorgen – diese Strafe muss viel höher werden. Denn bis jetzt konzentriert sich die Armut mit all den zusammenhängenden Problemen oft an einer Stelle.
Was noch?
Allouch: Es fehlen Erwachsene vor Ort. Nun wird mit dem Finger auf die Eltern gezeigt, aber diese gehen meist arbeiten. Tagsüber sind viele Teenager auf sich selbst gestellt. Es gibt einen dramatischen Mangel an Sozialarbeitern, schulischer Begleitung und an Psychologen: Die heutigen Jugendlichen haben einen strengen Lockdown während der Corona-Pandemie erlebt – mit Ausgehverboten und geschlossenen Schulen, oft zusammengepfercht mit mehreren Geschwistern auf engsten Raum. Das wurde nie aufgearbeitet. Manche Politiker fordern nun mehr Repression oder die Einstellung von Sozialzahlungen für Eltern. Das löst unsere Probleme nicht.
Was löst sie dann?
Allouch: Wir brauchen Investitionen in die Erziehung, die Kultur, den öffentlichen Raum, in den Wohnungsbau. Aber auch einen anderen Blick, denn diese Viertel sind nicht das Problem, sondern der Ort für Lösungen. Diejenigen, die etwas anstellen, muss man verfolgen und sanktionieren, aber zugleich ist es wichtig, die Erfolge der anderen hervorzuheben. Vor zwei Wochen gaben Jugendliche aus unserer Stadt ein Konzert in der Philharmonie von Paris. Fast drei Jahre lang haben sie dafür geprobt, die Instrumente erhielten sie durch ein öffentliches Bildungsprojekt. Das Ergebnis war toll.
Viel Kritik an der Polizei und ihrer offensiven Strategie in sozialen Brennpunkten wird laut. Teilen Sie diese?
Allouch: Die Einsatzkräfte kommen nur, wenn es ein Problem gibt oder die Lage eskaliert – wenn es ruhig ist, haben sie keine Zeit und Mittel dafür. Nicolas Sarkozy hat noch als Innenminister die Bürgerpolizei abgeschafft mit der Ansage, dass die Beamten nicht zur Organisation von Rugby-Spielen da seien. Man sieht heute aber, dass sie ihren Sinn hatte. Ich arbeite sehr gut mit der Polizei zusammen, aber die Bedingungen müssen sich ändern.
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