Interview - Während in Europa über die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria gestritten wird, kämpfen Helfer gegen die Verzweiflung

Deutscher Arzt zu Moria: "Das kenne ich nur aus Indien und Bangladesch"

Von 
Marco Pecht
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Der Mainzer Arzt Gerhard Trabert behandelt die Brandwunden von geflüchteten Kindern auf der grieschichen Insel Lesbos. © Alea Horst

Der Mainzer Mediziner Gerhard Trabert ist seit dem Wochenende auf der Insel Lesbos. Bereits im August half der 64-Jährige einer Hilfsorganisation bei der Versorgung von körperlich behinderten Menschen oder chronisch Kranken im Flüchtlingslager Moria. Nach dem Brand gestaltet sich die Behandlung schwierig: Die Ambulanzen sind ebenso zerstört, wie die Behausungen der Migranten. Knapp 13 000 Personen haben kein Obdach und kämpfen ums Überleben.

Während des Telefoninterviews versucht Gerhard Trabert mit seinem Team in eine Art Übergangscamp zu gelangen, in dem Verletzte und Kranke auf Hilfe warteten. Immer wieder musste Trabert Polizeiposten passieren, bis an einem vorübergehend Schluss war. Das Chaos sei wegen einer improvisierten Essenausgabe zu groß, hieß es vonseiten der Polizei. Für Trabert bedeutet das: warten, mal wieder. Erschwert wird der Einsatz des Mediziners durch die Corona-Pandemie.

Herr Trabert, Sie sind auf Lesbos im Einsatz. Was erleben Sie?

Gerhard Trabert: Wir fahren gerade durch ein Gebiet, in dem tausende Menschen am Straßenrand leben. Wir müssen immer wieder Polizeistationen passieren. Es kann sein, dass wir unser Gespräch gleich unterbrechen müssen.

Wie stellt sich für Sie als Arzt die Situation rund um das abgebrannte Camp Moria derzeit dar?

Trabert: Ich bin am Samstagabend hier angekommen. Wir kooperieren mit einer chilenischen Physiotherapeutin, die im Camp gehandicapte Menschen versorgt. Jetzt unterstützen wir in medizinischen Belangen, da keine Versorgung dieser Menschen existiert. Am Samstag konnten wir sofort in den abgesperrten Bereich.

Was hat Sie dort erwartet?

Trabert: Es ist wirklich unglaublich. Ich war ja schon in vielen Einsätzen in verschiedenen Ländern gewesen. Aber hier habe ich den Eindruck, ich bin in Slums in Indien oder Bangladesch. Überall sitzen die Menschen in provisorischen Behausungen, auf Decken. Sie haben kein Trinkwasser und keine Nahrung, medizinische Versorgung ist nicht vorhanden.

Wie konnten Sie dann überhaupt auf die Schnelle helfen?

Trabert: Es war schon Mitternacht. Wir haben dann spontan angefangen, Menschen, die zu uns kamen, zu verbinden. Es gab sehr viele Brandverletzungen, auch bei kleinen Kindern. Diese Wunden haben sich mittlerweile infiziert mit Bakterien. Jetzt haben wir bei einer afghanischen Gemeinschaft im abgesperrten Bereich einen Raum, in dem wir behandeln können. Menschen, die uns kennen, bringen Patienten dort hin.

Sie sprechen vom abgesperrten Bereich. Was muss man sich darunter vorstellen?

Trabert: Moment, jetzt sind wir gerade bei der nächsten Polizeistation. (Das Interview wird kurz unterbrochen. Im Hintergrund hört man Gespräche mit Polizisten). Jetzt bekommen wir das Zeichen, dass wir hier parken müssen. Das bedeutet im schlimmsten Fall, dass wir unsere Medikamente und Ausrüstung kilometerweit tragen müssen. Wir wollen in den Bereich, in dem vermutlich einige tausend Menschen am Straßenrand oder im Olivenhain leben. Vor dem Brand waren dort die eingeschränkten und kranken Flüchtlinge untergebracht. Diese Menschen sind mit nichts versorgt - weder mit Trinkwasser noch mit Essen. Und es gibt Nachrichten, dass sie Abwasserleitungen anzapfen. Gestern hatte ich bei der improvisierten Sprechstunde den Eindruck, dass es mehr Durchfall- und Wurmerkrankungen gibt.

Haben Sie vergleichbare Situationen in Europa schon gesehen?

Trabert: Nein, so etwas habe ich mir nicht vorstellen können. Es ist unglaublich, dass so etwas in Europa möglich ist. Das kenne ich nur aus Hilfseinsätzen in Bangladesch und Indien.

Wie ist die Kooperation mit den griechischen Behörden? Wie werden Sie aufgenommen?

Trabert: Wir haben das Glück, dass wir eine kleine Hilfsorganisation sind ohne viel Bürokratie. Die Physiotherapeutin kann mit ihrem Ausweis in die abgesperrten Areale hineinfahren. Wir hören aber immer wieder, dass das Arbeiten größerer Organisation behindert wird. Es heißt dann, man brauche einen negativen Corona-Test aus Deutschland, um zu den Flüchtlingen zu kommen. Was soll das? Die Menschen leben hier dicht gedrängt. Es gibt 35 offizielle Covid-19-Fälle. Ich bin überzeugt, dass sich mittlerweile hunderte infiziert haben. Man wird von außen keine Infektion einschleppen, das Problem ist längst hier.

Wie arbeiten Sie dort?

Trabert: Wir machen einfach. Mit unseren unbürokratischen Strukturen können wir zumindest im Moment besser helfen. Wir sind einfach da und behandeln. Dann ist es auch gut und es guckt keiner groß.

Was für Patienten behandeln sie im Moment?

Trabert: Das sind viele Kinder und Erwachsene mit Hauterkrankungen - Krätze. Aber auch Wurm- und Pilzerkrankungen liegen vor. Wir haben aber auch Patienten mit Infekten der oberen Atemwege. Am Sonntagabend gab es eine tätliche Auseinandersetzung, weil die Menschen total am Limit sind und es auch Aggressionen gibt. Ein Mann wurde mit einem Messer attackiert und hatte mehrere Stichverletzungen. Helfer hatten versucht, die Ambulanz zu rufen. Aber die kommt einfach nicht, weil sie Angst vor Corona hat. Aber man kann doch die Leute nicht einfach im Stich lassen. Also bin ich dahin gefahren und haben den Mann verbunden und ihm Antibiotika gegen Infektionen gegeben.

Mit welcher medizinischen Ausstattung arbeiten Sie dort? Haben Sie alles mitgebracht?

Trabert: Ein Teil hatte ich nach meinem Einsatz im August da gelassen, dann hatte ich sehr viel dabei und eben waren wir in einer Apotheke und haben für 1500 Euro Medizin eingekauft, um sie direkt einsetzen zu können.

Sie sprachen von Patienten mit einer Infektion der oberen Atemwege: Sind das schon Corona-Fälle?

Trabert: Das kann ich nicht so ohne Weiteres diagnostizieren. Aber ich nehme an, es hängt damit zusammen, dass die Menschen zurzeit draußen leben und ein ziemlicher Wind geht. Das sieht mir alles nach normalen Infektionen aus. Aber gerade bei den Kindern kann eine eigentlich einfache Erkrankung wie eine Mittelohrentzündung unter diesen Bedingungen fatale Folgen haben. Es leben hier auch chronisch kranke Menschen, die jetzt keine Medikamente mehr gegen den Bluthochdruck oder ihre Zuckererkrankung haben. Viele sind auch jetzt noch mal stark traumatisiert - nach dem Krieg jetzt durch den Brand zum zweiten Mal. Diese Menschen müssen evakuiert werden. Besonders die etwa 2000 Hochrisikopatienten dürfen nicht länger bleiben.

Provisorische Hilfsstrukturen auf der Insel würden aus Ihrer Sicht nicht funktionieren?

Trabert: Diese Hochrisikopatienten müssen weg. Alles andere ist logistisch nicht umsetzbar. Wir sind in der Nähe eines neuen Camps, in das 3000 Personen aufgenommen werden sollen. Aber dann sind ja immer noch knapp 10 000 auf der Straße. Da kann man noch so viele Hilfslieferungen schicken, das wird nicht funktionieren. Die Menschen müssen ausgeflogen und in Europa verteilt werden. Deutschland muss sofort beginnen und 1000 bis 2000 der Risikopatienten aufnehmen. Das können und müssen wir jetzt leisten.

Wie sehr schränkt sie die aktuelle Corona-Pandemie bei ihrer Arbeit ein? Wie schützen Sie sich selbst? Haben Sie spezielle Schutzanzüge oder FFP2-Masken?

Trabert: Da kann man mein Handeln natürlich kritisieren. Ich schütze mich mit einer normalen Maske und mit Handschuhen. Wir desinfizieren viel. Aber unter diesen Bedingungen hier kann ich keinen Schutzanzug anziehen. Aber was ist die Alternative? Ich kann doch jetzt wegen der Infektionsgefahr nicht gar nichts machen. Dann sind die Menschen vollkommen abgeschnitten von der medizinischen Versorgung. Dann sterbe sie an ganz anderen Erkrankungen, die man leicht hätte behandeln können. Corona-Test und Labordiagnostik sind hier logistisch überhaupt nicht möglich. Ich habe 20 Kinder verbunden, wie soll ich da noch auf Corona testen. Ich verbinde Wunden und hoffe, dass es nicht zu einer Sepsis kommt.

Griechische Insel Lesbos

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