Arbeit

Vorkurse auch für Azubis?

Unternehmer sind besorgt über die Lerndefizite schon bei den Viertklässlern im Land und wollen gegensteuern

Von 
Bärbel Krauß
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Die Wirtschaft beklagt, dass zahlreiche Auszubildende Lücken in Deutsch oder Mathematik haben. Auch das Kabinett sucht jetzt nach Lösungen. © Jens Kalaene/dpa

Stuttgart. Stephan Schöne vom Medizintechnik- und Industrieelektronik-Hersteller H & B Electronic in Deckenpfronn ist Pragmatiker. Wenn Bewerber um einen Ausbildungsplatz beim firmeneigenen Deutschtest Schwächen zeigen und es wegen des demografischen Wandels schwer ist, die 15 Auszubildenden zu finden, die sein Betrieb jedes Jahr braucht, lässt er sich davon nicht entmutigen. „Rechtschreibung und Schriftbild sind zum Teil erschreckend“, berichtet Schöne. „Aber das ist für uns kein Grund, jemanden nicht zu nehmen.“ Für die Azubis im ersten Lehrjahr bietet H & B inzwischen Nachhilfe in Deutsch an.

Vielleicht haben Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) die Ohren geklungen, als Schöne bei einer Pressekonferenz zum Ausbildungsmarkt kürzlich von seinen Erfahrungen berichtet hat. Der ist mit 11 300 unbesetzten Lehrstellen im Südwesten derzeit so angespannt wie nie.

Kleine Firmen überfordert

IQB-Bildungsvergleiche und was sie bedeuten

Konzeption: Das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) ist kurz nach der Jahrtausendwende eigens gegründet worden, um die Qualität der deutschen Schulen besser messen zu können. In erster Linie geht es darum, nicht den Leistungen der Schüler, sondern dem Bildungssystem auf den Zahn zu fühlen.

Besonderheit: Das Besondere an den Studien, die das IQB regelmäßig im Auftrag der Kultusministerkonferenz macht, ist, dass sie gezielt überprüfen, ob das, was die Schulen laut Lehrplan und gemäß Bildungsstandards lehren sollen, bei den Schülern auch ankommt. Das ist eine genauere Messlatte für die Qualität des Unterrichts als internationale Studien, in denen allgemeine Bildungserwartungen an eine bestimmte Altersgruppe bewertet werden.

Ländervergleich: Beim jüngsten IQB-Bildungstrend haben sich die Leistungen der Viertklässler in allen Bundesländern deutlich verschlechtert. luß

Ein Einzelfall sind die Erfahrungen von H & B nicht. Geht es nach Thomas Bürkle, dem Vizepräsidenten des Verbands Unternehmen Baden-Württemberg (UBW), sollte das Land in großem Maßstab gegensteuern. Vorbereitungskurse, wie man sie bisher von Unis kennt, will Bürkle zwischen Schulabgang und Ausbildungsstart dazwischenschalten, um Lernrückstände aus der Schulzeit doch noch auszubügeln.

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„Ein rechtwinkliges Dreieck berechnen kann heute kaum mehr ein Bewerber“, erklärt der technische Geschäftsführer der Elektronikherstellers Bürkle + Schöck und UBW-Vizepräsident. „Unternehmen wie meines mit 130 Mitarbeitern können ihren Azubis Nachhilfe im Rechnen und Deutsch anbieten. Aber Ausbildungsbetriebe mit sechs Beschäftigten, wie wir im Land viele haben, werden solche Anstrengungen nicht stemmen.“ Christian Rauch, der Chef der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit, pflichtet Bürkle bei. „Die Heterogenität unter den Auszubildenden wächst. Das stellt Ausbilder und Berufsschulen vor neue Herausforderungen.“

Dass der Regierungschef sein ganzes Kabinett dazu verdonnert hat, sich am Montag über die IQB-Studie, die Defizite der Grundschulen und Möglichkeiten zum Gegensteuern zu informieren, rennt bei UBW-Vize Thomas Bürkle offene Türen ein. Würde Kretschmann zu einem Spitzengespräch oder Strategiedialog einladen, um über die Leistungsdefizite der Schulen und über Gegenmaßnahmen zu beraten, wäre er sofort dabei.

Dass der Fachkräfte- und Azubimangel die Unternehmen ohnehin drückt, verstärkt in der Wirtschaft die Besorgnis über schlechte Nachrichten von der Leistungsfähigkeit der baden-württembergischen Schulen, die sich zuletzt wieder gehäuft haben. Zwar ist der Abwärtstrend beim Lesen, Zuhören, Rechnen und Rechtschreiben, den der jüngste IQB-Bildungstrend bei den Viertklässlern diagnostiziert hat, ein bundesweites Phänomen. Aber bei den Hightech-Unternehmen in Baden-Württemberg mit ihrem hohen Bedarf an hochqualifizierten Ingenieuren und Facharbeitern schrillen die Alarmglocken noch etwas lauter als im Rest der Republik, wenn ein Fünftel der Viertklässler die Mindestanforderungen in Deutsch und Rechnen nicht erfüllt.

Öfter zweiter Anlauf nötig

Zwar sind die Viertklässler von heute noch weit von der Ausbildung entfernt, aber Bildungsforscher fürchten, dass die Kinder solche Wissenslücken in der Schulzeit nicht mehr schließen können.

Arbeitsagenturchef Rauch appelliert an Politik und Wirtschaft, Jugendlichen, die länger brauchen, um eine Ausbildung erfolgreich abzuschließen, diesen zusätzliche Zeit einzuräumen und eventuell neue Berufsbilder zu schaffen. Außerdem müssten Schule und Ausbildungsbetriebe sich darauf einstellen, dass Jugendliche auf dem Ausbildungsmarkt öfter einen zweiten Anlauf brauchen und das Durchschnittsalter der Lehrlinge von derzeit zwanzig Jahren auf über dreißig steige.

Auch der DGB-Landeschef Kai Burmeister fordert angesichts der wachsenden Personalnot passgenaue Angebote für Jugendliche, die am Ausbildungsmarkt eine zweite Chance benötigen.

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