Stuttgart. Lernen Grundschüler besser, wenn sie keine Noten bekommen, sondern eine verbale Rückmeldung zu ihrer Leistung? Dieser Frage will Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) per Schulversuch auf die Spur kommen. Gut siebzig Grundschulen im Land stehen deshalb in den Startlöchern. In diesen Tagen beginnt die Bestandsaufnahme zum Projektstart mit Fragebögen für Lehrkräfte, Schüler und Eltern.
Worum geht es bei dem Modellversuch genau?
Sich nicht mehr zu fürchten vor dem Vierer im Diktat oder dem Fünfer im Rechnen-Test, aber auch kein Stolz mehr auf einen Einser im Aufsatz oder die Zwei im Sachunterricht: Das ist ab jetzt Wirklichkeit für Schüler an 37 Grundschulen im Land, die sich für den Versuch beworben haben. Drei Jahre lang werden ihre Leistungen nicht mit den üblichen Noten von Eins bis Sechs bewertet, sondern mit differenzierten, möglichst die Lernbereitschaft fördernden Rückmeldungen. „Am Ende wollen wir vergleichen, wie es um die Unterrichtsqualität und die Leistungen der Schülerinnen und Schüler bestellt ist“, sagt Schopper zum Ziel des Projekts.
Wie ist der Versuch in den Schulen aufgebaut?
Neben den 37 Schulen, die notenlos lehren und lernen, sind weitere dreißig Grundschulen dabei, die ganz normal mit Noten arbeiten. Sie bilden die Kontrollgruppe im Schulversuch. Das Kultusministerium hat sie nach eigenen Angaben zufällig ausgewählt. Bei allen Versuchsteilnehmern werden Leistung und Motivation der Grundschüler immer wieder erfasst. Lehrer und Eltern werden zugleich nach schulischen Bedingungen, Unterstützung und Meinung zum Schulversuch befragt.
Die Schüler der Modellgruppe erhalten in den Klassen eins bis vier keine Noten und bis einschließlich der dritten Klasse keine Versetzungszeugnisse. In der vierten Klasse werde festgestellt, ob das Lernziel der Grundschule erreicht wurde. „Dies ist dann der Fall, wenn die erreichten Kompetenzen die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht einer weiterführenden Schulart erwarten lassen“, erläutert das Ministerium. Die „Notenfreiheit“ wird Stand heute bis zum Schuljahr 2024/25 erprobt. Danach folgt die wissenschaftliche Auswertung.
Was sagen Schulpraktiker von Reformschulen zu dem Vorhaben?
Tobias Haas ist Rektor der Gerhart-Hauptmann-Schule in Mannheim und freut sich darauf, „wieder in eine notenfreie Lernumgebung zurückkehren zu können“. Seine Schule war schon bei dem Vorgänger-Modellversuch dabei. Haas ist voller Elan. „Das Lernen ohne Noten ist sicher nicht für jede Schule der bessere Weg, für uns aber schon“, sagt er. Seine Schule habe die Philosophie, das Projekt erfolgreich umzusetzen, Lehrer, die so arbeiten können und wollen, sowie die Unterstützung von Schüler und Eltern. „Der größte Vorteil ist, dass sich die Perspektive auf das Lernen ändert“, erklärt der Rektor. Die Defizite der Schüler zählten weniger. Das schon Gelernte und die Perspektive auf das noch zu Lernende rückten in den Mittelpunkt.
Die Kritik, dass Bewertung ohne Noten die Defizite der Schüler verschleiere, weist er zurück: „Wir werden durch den Verzicht auf Noten nicht beliebig. Wo ein Schüler mit seinem Kenntnisstand steht, kann man durch einen Bewertungsbalken von ,Übungsbedarf‘ bis ,Prima‘ ausdrücken.“ Schon weil Kinder heute mit so unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schulen kommen, hält er Rückmeldungen, die differenzierter sind als Noten, für angebracht.
Und was meinen Vertreter der Kontrollgruppe?
Bianca Brissaud, Rektorin an der Grundschule Horb-Altheim im Nordschwarzwald, ist ausgesprochen neugierig, was bei der Evaluation für ihre Schule und den Versuch insgesamt herauskommt. Sie ist in der Noten-Frage nicht dogmatisch, sondern offen. Tatsächlich hatte ihre Schule erwogen, auf der anderen Seite des Modellversuchs mitzumachen, sich dann aber schließlich doch dagegen entschieden. Dass sie jetzt in der Kontrollgruppe ist, sieht die Schulleiterin als Vorteil, „weil wir schon dadurch eine ganze Menge über die Materie und die verschiedenen Bewertungsmöglichkeiten lernen“.
Brissaud ist überzeugt, dass beide Bewertungsformen Vor- und Nachteile haben. „Für Lehrer stiften die Noten Eins bis Sechs Sicherheit, weil sie Zeugnisse damit begründen können. Schüler können sich über Einser oder Zweier freuen und tun das auch.“ Das größte Manko von Noten sei, dass sie den Lernfortschritt nicht spiegeln. Da hält sie verbale Bewertungen für besser. „Kinder, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, haben enorme Fortschritte gemacht, wenn von hundert Wörtern im Diktat nicht mehr sechzig, sondern vierzig falsch sind. Trotzdem ist das Ergebnis immer noch eine Sechs. Das tut einem manchmal schon in der Seele weh.“
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