Wertheim. Auch Wertheimer Literaten standen im Widerspruch zum Nationalsozialismus, wie dieser Teil der FN-Serie „Verfolgte im Nationalsozialismus“ zeigt.
Zu erwähnen wäre die Stummfilm-Diva der Weimarer Republik, Sybil Morel (1892 bis 1942, Shoah), die 1903 bis 1907 in Wertheim in die Höhere Töchterschule ging und 1933 ein Buch – modern gesprochen – zur Me-too-Bewegung in der Filmbranche der 1930er Jahre verfasste. Weiter gab es einen Literatenkreis um Stefan George, zu dem Gerhardt Herrmann, Wolfgang Frommel sowie Percy Gothein (1896 bis 1944, KZ Neuengamme, Niederlande) gehörten. Sie verkehrten in einem Intellektuellenkreis im Hofgartenschlösschen. Gothein verfasste in Wertheim 1924 sein Werk Opus Petri. Anna Seghers hat Wertheim beziehungsweise Lindelbach in zwei weltberühmten Romanen zum Nationalsozialismus 1933 und 1939 ausführlich zum Thema gemacht. Dies geschah, ohne dass sie je in Wertheim gewesen wäre, sondern vermittelt über die Lindelbacherin Katharina Schulz, die 1929 bis 1940 Kinderfrau in Seghers Familie war. Dieser Beitrag ist jedoch den Eheleuten Johannes und Mile Braach sowie deren Tochter Bergit gewidmet, die alle drei Bücher verfassten, der Vater einen Bestseller sogar in Wertheim selbst.
Studie über Hechte in Main und Tauber
Familie Braach lebt von März 1925 bis November 1929 in Kreuzwertheim und Wertheim. Der Vater schreibt in Wertheim den Roman „Tur Dell“, eine romanhafte, aber sehr kundige Studie über das Leben von Hechten im Main mit viel Lokalkolorit bezüglich Wertheim und umliegenden Dörfern an und nahe dem Main (Hasloch, Grünenwört, Eichel, Urphar, Bettingen, Lindelbach) sowie der Tauber. Dieses Buch fand in mehr als 80 tausend Exemplaren Verbreitung.
Seine Frau ist Jüdin, was ihm vielerlei Repressalien einbringt. Auch übt er offen Kritik am Nationalsozialismus. So nennt er zum Beispiel Göbels vor einem SS-Mann – wenig literarisch – zwei Mal ein „Arschloch“. Tochter Bergit (1921 bis 2011; später verheiratete Forchhammer) unterstützt 1938/39 als Angestellte im Frankfurter Büro der Quäker Verfolgte bei der Vorbereitung ihrer Flucht aus Nazideutschland und flieht im August 1939 selbst nach London. Dort erlebt sie unter anderem als Feuerwehrfrau die schlimmsten Bombenangriffe auf die Stadt mit und hält dies literarisch fest. Ihre Bücher sollten für die deutsche Geschichtsschreibung wegen der besonderen Perspektive von hohem Wert sein.
Mile Braach schreibt in Wertheim für Zeitschriften
Ihre Mutter Mile Braach (1898 bis1998) schreibt während ihrer Wertheimer Zeit – mehr aus Geldnot – Artikel für verschiedene Zeitschriften. Wegen ihrer alten Eltern verharrt Mile während der NS-Zeit in Frankfurt am Main. 1935 erhält sie Schreibverbot durch die Reichsschriftkammer. Von 1939 bis 1945 verfasst sie eine Briefreihe an ihre Tochter, die aber nicht zum Versand nach London kommt und von ihr und ihrer Tochter nach dem Krieg publiziert wird. Noch im Juli 1940 strebt sie einen erneuten Aufenthalt in Wertheim an, zu dem es aber wegen des überraschenden Todes ihres Mannes nicht kommt.
Die Texte geben Einblick in das Leben von Juden während des Nationalsozialismus in Frankfurt, aber auch in Köln, wo sie Freunde hatte. Die Verfolgungen durch die Nazis, aber auch die Bombardierungen beider Städte durch die Alliierten und die Auswirkungen all dessen auf das tägliche Leben, sind ein breites Thema. Obwohl die Verfolgungen des jüdischen Vaters immer engmaschiger werden und für ihn bereits ein Deportationsdatum feststeht, gelingt es Mile, ihre Eltern und sich bis zur Befreiung Deutschlands vor Zugriffen zu bewahren. Nach dem Tod des Vaters Otto Hirschfeld (1866 bis1952) bis einige Jahre vor 1997, also noch mit fast 100 Jahren, ist Mile Alleininhaberin der elterlichen Firma für Lederfabrikation. 1990 erhält sie das Bundesverdienstkreuz. 1992 veröffentlicht sie ihre Lebenserinnerungen, 1997 ihre Briefe an Bergit aus der Kriegszeit.
Erinnerungen von Ingeborg Kehe
Ingeborg Kehe (1920 bis 2011) konnte sich noch 2010 in Wertheim an die Familie Braach erinnern. Ein Interview mit ihr zeigt, wie selbstverständlich Juden und Nichtjuden im Wertheim der 1920er Jahre miteinander lebten. Ingeborg und Bergit waren Nachbarskinder und zum Beispiel in derselben Gymnastikgruppe. 2010 erinnert sich Kehe an Familie Braach: „Bergit war meine Freundin. Sie hat nebenan gewohnt. Ihre Mutter war Jüdin. Das Kind war eine Halbjüdin. Der Vater, Herr Braach, war Schriftsteller. Er hat vor allem Tierbücher geschrieben, vor allem über Fische. Er sagte immer zu uns: ,Wenn ihr Maikäfer bringt, dann bekommt ihr etwas.‘ Die Maikäfer brauchte er beim Fischfang. Wir hatten eine gute Freundschaft. Die Familie ist dann nach Hildburghausen gezogen, so zirka 1928/29. Und dann nach Frankfurt, weil die Mutter Frankfurterin war. Sie war eben Jüdin. Und denken Sie! Zirka 1998/99 lese ich zufällig in der FAZ [Frankfurter Allgemeine Zeitung] den Namen Braach. Da hat die Bergit [bei der Todesanzeige ihrer Mutter] unterschrieben. Offenbar lebte sie also noch. Und da habe ich dort angerufen, ob sie sich noch an Wertheim erinnere. Sie hat dann im Norden, ich meine in Schweden, gelebt. Wir vereinbarten, uns einmal zu sehen. Doch hat das dann irgendwie nicht geklappt.“
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