Wertheim. Talentiert, textsicher und temperamentvoll. Vor ausverkauftem Keller feierten die Wertheimer Gewölbegaukler am vergangenen Samstag die Premiere ihres neuen Programms „Kuck mal, wer da kommt“. Unter diesem Titel brachten sie vier Einakter auf die Bühne, die allesamt unerwarteten Besuch zum Thema haben.
Im Sketch „Pizza Diabolo“ erscheint ein ungebetener Pizzabote, in „Die vierte Wand“ werden drei unerwartete Gäste einer Party zum Verhängnis, „Mülltonne rausstellen“ handelt von feurigen Verehrern der Tochter, die beinahe das Familienleben in die Tonne klatschen, und im Sketch „Bratkartoffeln“ sorgt eine Sekte für völlig verkochte Kartoffeln.
Im ersten Stück des Abends überfällt die Empfängerin einer „Pizza Diabolo“ (Simone Becker) die Panik. Sie sieht sich teuflischen Versuchungen ausgesetzt, während die Pizzabotin (Regina Szymber) doch lediglich ihr Geld möchte.
Simone Becker erzählte den Fränkischen Nachrichten nach der Aufführung von ihrem Lampenfieber: „Bei den schnellen Dialogen in diesem Sketch muss jedes Wort hundertprozentig sitzen“. Es saß. Doch die Dialoge waren fast übertrieben schnell, die Darstellung am Anfang etwas hippelig.
Exzentrischer Überschwang
Im Mittelpunkt des Theaterabends steht „Die vierte Wand“ des zu Unrecht wenig bekannten Autors Peter Reul. Zunächst geht es in dem Stück um eine fast normale Party. Engagiert versucht Ewald (Nadine Schmidt), seinem introvertierten Mitbewohner Frank (Christian Schindler) ein Fest auszurichten. Hier und da hapert es mit Geschirr und als erster Gast erscheint ausgerechnet der skurrile Nerd Werner, in dessen Rolle Irena Hofmogel in stimmigem Kostüm eine präzise und gewitzte Pantomime gelingt.
Carmen Jessberger und Stephanie Kuhn überzeugen als selbstverliebte Glitzer-Schnepfen Lisa und Liz. Franks Freund Hakan (Juan Mendoza de Avila) bringt gut gewürzte – „mit Teflon!“ – Empanadas mit und die etwas naive, verhuschte Brigitte (Elsa Mendoza de Avila) nervt mit ihrer mitgebrachten Zimmerpflanze. Schließlich nimmt Renate Party, Bühne und Publikum mit ihrem exzentrischen Überschwang in einem Maße für sich ein, dass es kaum noch erträglich ist.
Dampfplauderin
In dieser Rolle als Dampfplauderin überzeugt Simone Becker absolut bravourös. Vergeblich versucht der süffisante pseudo-intellektuelle Schriftsteller Robert (Rainer Dreikorn) dem Star die Show zu stehlen, trägt dabei allerdings dick auf. Schon seine Begrüßung ziert er mit Kafka-Zitaten und nimmt bei seinen verächtlichen Flirts auch schon mal Anleihen beim biblischen Hohelied. Sein neuer Roman, mit dem er die Partygäste sichtlich langweilt, stellt sich als Plagiat von Tolstoi, Fontane und Chandler heraus, eine Globalisierung der Klassiker. Und als deren „Zauberlehrling“ erweckt Robert seine Romanfiguren schließlich zum Leben, verliert allerdings ein wenig die Kontrolle über sie.
Ähnlich wie bei Luigi Pirandello, dem Klassiker absurden Theaters und Meister des Grotesken, suchen Figuren ihren Autor. Der biedere Bänker Georg (Ute Sperling), seine laszive Frau Kitty (Stefanie Kern) und deren Geliebter Jack (Niklas Brode) irrlichtern durch die Party und geben ihr eine neue Dimension. Erst als Jack die Gäste beraubt und um sich schießt, gewinnt Autor Robert wieder Gewalt über seine Geschöpfe. Doch der Triumph währt nicht lang, denn schließlich sind nicht nur die Party und das „Stück im Stück“ zu Ende, sondern auch die Rollentexte und allen auf der Bühne dämmert, dass sie irreale Theaterfiguren sind.
Für Rainer Dreikorn ähnelt das Stück den Bildern von M. C. Escher mit ihren nur scheinbar zusammenpassenden Ebenen. Er erzählt von den Tücken seiner Rolle: „Mein Monolog bei der Erschaffung der Figuren geht über zwei Seiten. Ich blicke dabei ins Publikum und sehe nicht, was hinter mir passiert. Nach vorne sehe ich aber auch nichts, denn ich werde frontal angestrahlt“.
Tücken des Alltags
Und gleich nach der Pause schlüpft Dreikorn diesmal mit Dreispitz in eine völlig andere Rolle: als Vater Müller in der köstlichen Klamotte „Mülltonne rausstellen“. Dies und die anderen zwei Stücke entstammen der Feder des Reichholzheimer Autors Martin Köhler und rahmen Reuls Groteske komödiantisch ein. Mit viel Witz und Beobachtungsgabe, allerdings weniger Raffinesse als Reul, widmet sich Köhler den Tücken alltäglicher Begegnungen, etwa wenn die Mülltonne einer bürgerlichen Familie aus dem 18. Jahrhundert das Idyll verhagelt.
Der von Richard Kramer herausragend verkörperte schmierige und biedere Freier Wicht entpuppt sich als Intrigant und landet schließlich, wo er wohl hingehört, nämlich in der Tonne. Mirjam Kramer füllt die Rolle der Frau Müller im Stück authentisch aus und Tochter Luise (Victoria Weber) sowie deren geliebter Philosophiestudent (Regina Szymber) können ebenfalls schauspielerisch überzeugen.
Der an der Weimarer Klassik orientierte Sprachduktus des Stücks ist allerdings für viele der Darstellerinnen und Darsteller eine Hürde, die skurrile Handlung, Maske und Kostüme eine Herausforderung für Zwerchfell und Lachmuskeln des Publikums.
Im letzten Stück, „Bratkartoffeln“, möchte ein klingelputzendes Missionarspaar (Stefanie Kern und Sebastian Latka) über Gott reden und stört damit die Hausfrau (Stefanie Kuhn) beim Kartoffelkochen. Bratkartoffeln kochen statt braten? Eben! Die existenzielle Frage nach Gott weicht im wahrsten Sinne des Wortes zwischen Tür und Angel der offenbar noch existenzielleren Problematik, wie man am besten Bratkartoffeln zubereitet. Am Ende misslingen sowohl himmlische Mission als auch die Erdäpfel.
„Fantastisches Publikum“
Nach den vier Einaktern schließlich verdienter großer Applaus. Der Beifall galt allen Darstellerinnen und Darstellern, ebenso aber Benno Kern für die Technik, Tommy Kies für das Bühnenbild, dem anwesenden Autor Martin Köhler und nicht zuletzt Bernadette Latka für Regie und die Auswahl der Stücke.
Latka bedankte sich begeistert: „Ihr seid ein fantastisches Publikum, und die Gruppe hat geil gespielt“. Nur ein Mitglied der Gewölbegaukler spielte bei der Premiere eine zu vernachlässigende Rolle, was positive zu bewerten ist: Beate Schindler hatte als Souffleuse nur einen einzigen kurzen Auftritt.
Am 26. und 27. April finden jeweils um 20 Uhr weitere Aufführungen des Programms statt. Bei vorheriger Anmeldung mit Fingerfood-Buffet. An der Abendkasse wird es allerdings auch Karten für Theater pur und ohne Sättigungsbeilage geben.
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