Klangerlebnis

In Wertheimer Stiftskirche: Zuhörer könnten sich Geschehen nicht entziehen

Von 
Rainer Lange
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Der Chor der Stiftskirche musizierte am Palmsonntagabend unter der Leitung von Bezirkskantor Carsten Wiedemann-Hohl mit den Solisten Sonja Miranda-Martinez (Sopran), Bianca Schütz (Alt), Christian Havel (Tenor) und Sven Fürst (Bass). Die „Brockes-Passion“ von Georg Friedrich Händel begeisterte und forderte Publikum und Mitwirkende gleichermaßen. © Rainer Lange

Wertheim. Die „Brockes-Passion“ von Georg Friedrich Händel (1685 bis 1759) für Solisten, Chor und Orchester begeisterte am Palmsonntagabend in der Wertheimer Stiftskirche ein Publikum, das sicherlich mit unterschiedlichen Erwartungen gekommen war, aber mit tiefen Eindrücken und Empfindungen nach fast drei Stunden barocker Klangvielfalt reich belohnt wurde.

Die gereimte Nachdichtung der Evangeliumstexte von Barthold Heinrich Brockes aus dem Jahr 1712 ist immerhin der am häufigsten vertonte Passionstext in deutscher Sprache und die Vertonung durch Händel die bekannteste neben der von Reinhard Keiser. Von diesem hatte der Stiftskirchenchor vor Jahren die bekanntere Markuspassion eingeübt.

Carsten Wiedemann-Hohl leitete nicht nur Chor und Orchester, sondern begleitete viele Rezitative selbst auf dem Cembalo. Solisten waren Sonja Miranda-Martinez (Sopran), Bianca Schütz (Alt), Christian Havel (Tenor) und Sven Fürst (Bass). Außerdem sangen aus den Reihen des Chors Chiara Kraus, Amelia Kraus, Melissa Hasenfuß, Regina Oetzel, Eberhard Feucht, Daniel Krebs und Hyun Soo Park.

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Stephan Hoffmann
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Die Grundidee des Pietismus, dass der Glaube seinen Ursprung in der emotionalen Erfahrung haben kann, wurde in den kernigen Texten überdeutlich. „Das ist mein Leib, kommt, nehmet, esset, damit ihr meiner nicht vergesset“, klingt noch heiter und unbeschwert. Drastisch wurden die Worte bei der ausführlichen Beschreibung von Jesu Leiden: „Hör sein jämmerliches Ächzen, schau, wie Zung’ und Lippen lechzen.“

Händel verwendet nahezu alle musikalischen Stilmittel aus der Opernmusik seiner Zeit, um das Leiden und Sterben Jesu auch in der Musik darzustellen und die Textaussagen zu ergänzen und zu verstärken. So forderte der „Chor der Kriegsknechte“ energisch auf: „Greift zu, schlagt tot“. Der „Chor der Jünger“ klagte ruhig und ergeben: „O weh, sie binden ihn mit Strick und Ketten“, um sofort darauf in schnellen Notenwerten aufgeregt zu rufen: „Auf, lasst uns flieh’n und unser Leben retten!“

Sonja Miranda-Martinez (Sopran) und Christian Havel (Tenor) hatten nicht nur die erzählende Rolle des Evangelisten und der von Brockes hinzugefügten nichtbiblischen Figur der „Tochter Zion“, sondern faszinierten auch in kunstvoll komponierten Arien, die Textstellen stets lautmalerisch perfekt umgesetzt. Die „wilden Wetter“, der „winselnde Sündenknecht“, die „ergrimmte Natternbrut“ wirkten so nicht wie ferne Naturphänomene, sondern hatten durchaus eine direkte emotionale Wirkung auf das Publikum.

Auch und gerade durch die relative Länge der Passion von fast drei Stunden blieb beim Zuhören eigentlich keine Wahl: Man konnte sich dem drastischen und schonungslosen Geschehen – das es nun einmal ist – nicht einfach entziehen, sondern musste sich den Texten und der Musik anvertrauen. Umso beruhigender und trostreicher wirkten die wenigen zusammenfassenden vierstimmigen Choräle, die auch in Bachs großen Passionen eine ebensolche wohltuende Wirkung entfalten. So war Zuversicht und Hoffnung Grundaussage und Abschluss der Passion: „Wann ich gleich sterb’, so sterb’ ich dir, ein ewig’s Leben hast du mir mit deinem Tod erworben“.

Wie geschaffen für die souverän wirkende Rolle des Jesus war Sven Fürsts sonore Bassstimme, gegen Ende der Passion wundervoll kombiniert mit Sopran und Alt im Terzett „Gläubige Seelen“. Bianca Schütz’ warmer Alt wirkte verbindend zwischen dem tiefen Bass und dem hohen Sopran und formte so einen kleinen, aber feinen Chor als Pendant zum großen klangprächtigen Kathedralchor der Stiftskirche.

Die sauber intonierten A-cappella-Passagen wurden vom Orchester gefühlvoll und dezent – wie während des ganzen Werks – begleitet und fortgeführt.

Besondere Akzente setzten die Sängerinnen und Sänger aus dem Chor, die die Rollen der Maria, der Mägde und Kriegsknechte sowie des Kaiphas und des Petrus übernahmen. Eindrücklich war auch das reine Streichorchester mit nur zwei Oboen, die jedoch in feurigen Tenorarien den Koloraturen durchaus trompetengleichen Glanz hinzufügten. Später kam noch ein Fagott hinzu, das die wunderschön wiegende Sopran-Arie „Was Wunder, dass der Sonnen Pracht“ geradezu liebevoll begleitete.

Bezirkskantor Carsten Wiedemann-Hohl konnte sich auf Solisten und Continuokollegen an Orgel, Cello und Kontrabass immer verlassen, sodass er bei vielen Rezitativen sein bewundernswert deutliches Dirigat zugunsten der direkten Kommunikation der Musiker reduzieren konnte.

Lang anhaltender Applaus war der Dank für die Höchstleistung an Aufmerksamkeit, Konzentration und Können, das Solisten, Chor, Musiker und Dirigent drei Stunden lang eindrucksvoll bewiesen hatten.

Die kalten Füße der Applaudierenden am Ende des Oratoriums waren in Anbetracht des ernsten Passionsthemas – nicht nur in der jetzigen Karwoche – leicht zu ertragen.

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