Odenwald-Tauber. „Mutter ist ein herzensguter Mensch“, sagt Simone Kuhn (Namen geändert). Seitdem die 84-jährige Inge an Demenz erkrankt ist, unterstützt die Tochter ihre Mutter im Alltag. „Sie hat sich um uns gekümmert und um meine Kinder. Für mich ist es jetzt an der Zeit, ihr zurückzugeben, was ich selbst bekommen habe.“ Simone und Inge leben Tür an Tür in einem Doppelhaus in einer Wertheimer Ortschaft. So lange es geht, soll Inge in ihrem Haus gepflegt werden.
Damit ist sie eine von 6639 Pflegebedürftigen im Main-Tauber-Kreis, die laut der Auswertung der Pflegestatistik von 2021 durch das Statistische Landesamt vorwiegend zu Hause versorgt werden. Gemessen an der Gesamtzahl der Pflegebedürftigen sind dies fast 82 Prozent. Im Neckar-Odenwald-Kreis wurden 8253 Menschen (83 Prozent) vorwiegend zu Hause gepflegt.
Wie im ganzen Land ist hierzulande die Zahl derer gestiegen, die im häuslichen Umfeld gepflegt werden; im Main-Tauber-Kreis sogar um gut ein Viertel. Gleichermaßen entwickelt sich die Gesamtansicht in Relation zur Einwohnerzahl: Hier belegen der Neckar-Odenwald-Kreis und der Main-Tauber-Kreis sogar Platz eins und drei landesweit. Während im Landesdurchschnitt 49 Pflegebedürftige auf 1000 Einwohner kommen, sind es im Neckar-Odenwald-Kreis 69 und im Main-Tauber-Kreis 61.
Die steigende Zahl der Pflegebedürftigen schlägt sich auch auf den Beratungsbedarf nieder. „Die Anfragen für Beratungen sowohl telefonisch als auch persönlich oder in der Häuslichkeit des Pflegebedürftigen sind definitiv angestiegen“, beobachtet Birgit Scheuermann vom Pflegestützpunkt Mosbach. Von einer stetig größer werdenden Anzahl an Beratungen berichtet auch der Pflegestützpunkt des Main-Tauber-Kreises.
Die Experten führen dies unter anderem auf den demografischen Wandel zurück. Im Fall des Neckar-Odenwald-Kreises komme noch hinzu, dass es dort in Relation zur Bevölkerung überdurchschnittlich viele Pflegeheimplätze – nicht nur im Seniorenbereich – gebe. „Dadurch werden auch Personen in die Pflegequote hineingerechnet, die zwar aus anderen Landkreisen stammen, aber nun zur Gesamtbevölkerung zählen, weil sie sich hier in einem Pflegeheim befinden“, erklärt Scheuermann.
Aus ihrer Beratungstätigkeit kennen sie und ihre Kollegen die Gründe dafür, weshalb mehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden. „Die meisten Menschen wünschen sich trotz Alter, nachlassender Kraft oder Behinderung weiterhin zu Hause in ihrem gewohnten Umfeld leben zu können. Zuhause fühlen sie sich wohl und haben ihre sozialen Kontakte“, sagt Scheuermann.
„Weggeben ist die letzte Option“, verdeutlicht Simone Kuhn. „Daheim fühlt sich meine Mutter am wohlsten.“ Seit 2015 braucht Inge nun die Hilfe ihrer Tochter, seit vier bis fünf Jahren kommt der Pflegedienst am Morgen, seit drei Jahren wird Inge tagsüber in der Tagespflege betreut. „Dort hat sie Ansprache und wird gefördert. Anfangs sagte sie immer, sie brauche das nicht. Aber ich kann nicht nach ihr sehen, wenn ich bei der Arbeit bin, und da hätte ich keine Ruhe“, nennt Simone Gründe für die Entscheidung der Familie, Unterstützung von außen zu holen. Trotzdem hat die Pflegebedürftigkeit der Mutter das Leben der Familie verändert. Jeder Termin muss wohl überlegt und koordiniert sein. Abends spontan ausgehen, ist nicht möglich: Inge braucht Hilfe bei der Abendtoilette. Wenn sie später am Fernseher sitzt und Nüsse knackt, muss mehrfach jemand nach dem Rechten sehen. „Am Wochenende sind wir am Abend bei einem Geburtstag eingeladen. Da gucken meine Kinder nach der Oma.“ Am Sonntagnachmittag übernehmen Simones Geschwister Teile der Tagesbetreuung.
„Pflege und Beruf zu vereinbaren, ist nicht einfach“, weiß Monika Schwenkert vom Pflegestützpunkt des Main-Tauber-Kreises. „Die Lebensplanung muss oft verändert werden“, sagt Birgit Scheuermann. Für die Pflegenden bedeute dies: weniger Freizeit und ein Zurückstellen von eigenen Bedürfnissen. „Wichtig dabei ist, auch ,Selbstpflege’ zu leisten. Dazu gehört, sich Auszeiten zu nehmen und sich selbst Gutes tun, um den Herausforderungen des Pflegealltags gerecht werden zu können“, rät die Expertin.
Entlastung sei möglich, etwa indem Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Tagespflege, Betreuungsgruppen oder Betreuung in der Häuslichkeit in Anspruch genommen werden, aber auch in Form von Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst, führt Monika Schwenkert auf.
Allerdings muss die Unterstützung auch finanziert und organisiert werden. Wie schnell dies möglich ist, sei abhängig vom Bedarf beziehungsweise dem Umfang der gewünschten Leistung. „Je umfangreicher und zeitlich gebundener der Bedarf ist, umso anspruchsvoller ist die Organisation. Für reine hauswirtschaftliche Unterstützungen ist es besonders schwer, einen Pflegedienst zu organisieren“, sagt Monika Schwenkert. Unter welchen Umständen sich Angehörige schließlich dazu entschließen, den Pflegebedürftigen in ein Pflegeheim zu geben, kann die Expertin nicht pauschal beantworten. Beweggründe und Entscheidungsfaktoren seien sehr unterschiedlich.
Für Simone Kuhn ist ein Platz im Pflegeheim für ihre Mutter bisher kein Thema: „Wir machen das zu Hause, so lange es ihr und mir gut geht“, hat sie sich vorgenommen.
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