Wertheim. Ein Dramenfragment aus dem 19. Jahrhundert mit Musik aus dem 20. Jahrhundert und Bühnentechnik aus dem 21. Jahrhundert. Und die immerwährende Frage: Wer ist schuld an Verbrechen? Der Verbrecher oder seine Lebensumstände? Mit „Woyzeck“ von Georg Büchner in Musicalform gelang der Badischen Landesbühne am Dienstag ein grandioser Auftakt der Spielzeit 2023/24 in Wertheim. Auch etwa 100 Schüler waren bei der Aufführung in der Aula Alte Steige dabei, da das Werk von Georg Büchner Teil des nächstjährigen Abiturs ist.
Zunächst begrüßte Dramaturgin Fränzi Spengler das Wertheimer Publikum, auch im Namen des neuen Intendanten Wolf E. Rahlfs, der seit diesem Jahr federführend für die Inszenierungen der Badischen Landesbühne verantwortlich ist. Gleichzeitig hat sich die Bühne, die ein Verein mit Beteiligung der 16 Mitgliedsgemeinden – unter anderem Wertheim – ist, ein neues Logo gegeben.
Auch in den Inszenierungen scheint Rahlfs gerne etwas gegen den Strich zu bürsten, um Irritationen und damit tieferes Interesse bei seinem Publikum zu wecken. So habe er den Woyzeck bewusst mit Nadine Pape weiblich besetzt, um die Gewalt als rein männliches Phänomen aufzureißen. Dies auch deshalb, weil sie „eine großartige Schauspielerin ist und gut singen kann – auch nicht unwichtig bei einem Musical“, erklärte Spengler in der Einführung. Damit wolle man aber auf keinen Fall das Problem männlicher Gewalt in der Partnerschaft herunterspielen in einer Zeit, in der nach Aussage des Bundeskriminalamts etwa jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner umgebracht wird. Auch auf dieses noch immer aktuelle Phänomen macht der „Woyzeck“ aufmerksam.
Was wohl gleich bleiben wird, sind die Hochwertigkeit und Raffinesse der aufgeführten Stücke, die das Publikum unterhalten, ihm aber auch häufig einiges abverlangen. Davon waren die Gäste nach der 90-minütigen Aufführung des „Woyzeck“ in der Fassung von Robert Wilson mit Songs von Tom Waits und Kathleen Brennan überzeugt.
Mit einem dieser Lieder, „Misery ist he river oft he world“, beginnt die Aufführung und so mit einer eher düsteren Botschaft, die aber von den Schauspielern und Musikern kraftvoll – wütend – vorgetragen wird und damit das Publikum gleich mitreißt. Zuvor erzählten die Darsteller mit dem Rücken zum Publikum sitzend, das Märchen vom Sterntaler, das aus der Armut heraus als guter Mensch reich wird. Dieses folgt nochmals am Schluss und bildet den Rahmen für eine Handlung, in der sich die Hauptfigur in ihrer Not anders entscheidet und letztlich zum Mörder wird.
Der ursprüngliche „Woyzeck“ ist ein Fragment, da Büchner, der 1837 bereits mit 23 Jahren starb, ihn nicht vollenden konnte. So kam es, dass er erst viele Jahrzehnte später 1913 in München uraufgeführt wurde. Bereits durch Alban Bergs Oper „Wozzek“ von 1921 kam die Musik ins Stück. Die Weiterentwicklung zum Musical im Jahr 2000 scheint da nur folgerichtig. Die Geschichte beruht auf dem wahren Schicksal eines Soldaten, der 1821 in Leipzig seine Freundin erstach.
Der verarmte, etwas unterbelichtete Soldat Woyzeck ist ein Spielball derer, die im Leben mehr Glück haben. Da gibt es den Hauptmann (Stefan Holm), der ihm von oben herab gute Ratschläge gibt, und den Doktor (Cornelia Heilmann), der ihn gegen ein paar Groschen für medizinische Experimente in Form einer Erbsen-Diät missbraucht.
Doch dann sind da noch sein Freund Andres (Thilo Langer) und Marie (Madeline Hartig), die Mutter seines Sohnes und seine große Liebe. Mit ihr erlebt er in all seinem Elend schöne Momente, die sich in melodisch-gefühlvollen Liedern wie dem Duett „All the world is green“ zeigen. Währenddessen werden knallrote Herz-Luftballons zum Symbol.
Doch Rot ist nicht nur die Farbe der Liebe, sondern auch der Gewalt. Und diese Gewaltspirale beginnt, als der Tambourmajor (Lukas Maria Redemann) auf den Plan tritt. An die neuere Zeit angepasst, wird er als Gangster-Rapper dargestellt. Er macht Marie schöne Augen. Und im Gegensatz zu Woyzeck kann er ihr etwas bieten.
Man sieht das Entsetzen in Woyzecks Augen, als er die neuen Ohrringe seiner Partnerin entdeckt. Pape gelingt es ausgezeichnet, die verschiedenen Gefühlsausdrücke und den immer stärker werdenden Wahnsinn in Woyzecks Gefühlswelt schauspielerisch nach außen zu tragen.
Auch ihre Kollegen stehen ihr hierbei in Nichts nach, etwa wenn Heilmann durch dämonisches Lachen die bösen Absichten des Doktors aufzeigt oder wenn Redemann mit süffisant-überheblichem Grinsen auf Woyzeck herabsieht, bevor er ihn zusammenschlägt.
Die Gewaltspirale erreicht letztlich ihren Höhepunkt, als Woyzeck Marie zunächst ein Liebesgeständnis macht, um sie anschließend mit zahlreichen Messerstichen umzubringen. Unter anderem Hartigs Mimikspiel in dieser Szene sorgt dafür, dass dem Publikum der Atem stockt.
Diese Stimmung schlägt anschließend in lang anhaltenden Applaus um, der zur nochmaligen Zugabe des Songs „Misery is the river of the world“ führt und die Besucher mit gemischten Gefühlen entlässt: geschockt über Maries und Woyzecks Schicksal, aufgeputscht durch schmissige Musik und voll Vorfreude auf die weiteren Aufführungen in dieser Spielzeit.
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