Weikersheim. Giuseppe Verdi hielt das Finale von Beethovens 9. Sinfonie in d-Moll (op. 125) für „schlecht gesetzt“. Richard Wagner wiederum war der Auffassung, die Neunte sei „Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft.“
Heute gilt die 1824 uraufgeführte Sinfonie mit ihren gut 70 Minuten Aufführungsdauer nicht nur als Meilenstein der klassischen Musik, sondern als stilbildend. Zahlreiche Komponisten der Romantik und darüber hinaus haben sich an dem Werk abgearbeitet. Wie auch immer man dazu stehen mag: Die Neunte ist weltweit eines der populärsten und meistgespieltesten Werke – sozusagen ein zeitloser „Megaseller“.
Im Jahr 1972 ist das Hauptthema des letzten Satzes (von vieren) vom Europarat zur Hymne erklärt worden. 1985 wurde sie von der Europäischen Gemeinschaft zur offiziellen Europahymne erklärt. Sie versinnbildliche „die Werte, die alle teilen, sowie die Einheit in der Vielfalt“, heißt es in der Begründung.
Genau diese 200-jährige Bedeutungsgeladenheit stellt jeden Dirigenten vor eine Generalaufgabe: Pointiert man Süße und Sanftheit ebenso wie die Maestosos und drängenden Donner (der durchaus möglichen Effekte wegen) mit breitem Strich noch weiter? Oder lässt man sich etwas Neues (das möglicherweise etwas Ursprüngliches ist) einfallen? Tan Dun hat sich bei der Tourneepremiere durch große Konzerthäuser Europas in Weikersheim für einen moderaten Weg entschieden: durchaus opulent, aber weitgehend durchsichtig.
Zwischenbemerkung: Ludwig van Beethoven hat in der Schlussphase des langen Schaffensprozesses an der Neunten immer wieder erwogen, den berühmten „Freude“-Schlusschor (Textgrundlage: Die Ode Friedrich Schillers) mit seiner Verbindung von Himmel („Über’m Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen“) und irdischer Welt („Alle Menschen werden Brüder“) lediglich instrumental umzusetzen.
Schiller selbst – auch das nur angemerkt – mochte sein eigenes Gedicht nicht. Den prärevolutionären Bildungsimpuls der Entstehungszeit hielt er um 1800, als er die brutalen Auswüchse der Französischen Revolution realisiert hatte, nach „jetzigem Gefühl“ für „durchaus fehlerhaft“.
Ein Glück, dass es bei Beethovens Tonsatz am Ende doch anders gekommen ist. Denn hier kann der „World Youth Choir“, der schon beim Vokalkonzert in der Stadtkirche (Veranstalter: Jeunesses Musicales Deutschland) begeisterte, zeigen, was in ihm steckt.
Insgesamt wird der vierte Satz der Sinfonie zwar zu laut und damit oft – im Gegensatz zu den Instrumentalsätzen – akustisch kaum mehr durchdringbar, hin und wieder sogar schmerzhaft im Ohr. Das mag aber vor allem an den räumlichen Gegebenheiten liegen. Wenn man auf die Musikerzahl 200 zusteuert und deshalb schon die Bühnenfläche vergrößert werden muss, dann droht gerade Beethoven im finalen Presto überzulaufen. In deutlich größeren Konzerthäusern wird sich das Phänomen egalisieren.
Chor-Komposition überrascht
Trotzdem gab’s am Ende kaum enden wollenden Applaus für den Gesamtvortrag des größten Konzertes in der Tauberphilharmonie seit ihrer Eröffnung vor fünf Jahren. Bundesjugendorchester (BJO) und World Youth Choir (Leiter Jörn Andresen übernimmt bei der Tournee phasenweise den Dirigentenstab) an einem Platz – ähnliches bekommt man in Weikersheim sonst nur bei der JMD-Sommeroper zu hören, aber in deutlich kleinerer Besetzung.
Viele Konzertbesucher hat Tan Duns etwa halbstündige Eigenkomposition „Choral Concert: Nine“ überrascht. In gewissem Sinn ist dies ein Pop-Stück in klassischem Gewand und rückt die Möglichkeiten des Chors in den Mittelpunkt. Auf einem Bordunton entwickelt Tan Dun fast filmmusikalische Klangmalereien, Zischlaute, Spiele mit der Mundhöhle, Ein- und Ausatmen als rhythmisches Element, begleitet von einem (weitgehend) eher zurückhaltenden Orchester, was ostasiatsiches Donnergrollen auf der Miyadaiko-Trommel (oder ähnlichem) nicht ausschließt. Thematische Anklänge an Beethoven scheinen immer wieder auf.
Ganz besonders (und das gilt für das gesamte Konzert): Tan Dun gibt seine Musik den jungen Musikern, ermuntert die einzelnen Register mit persönlichem Gestus – die Dirigierfreude ist dem Komponisten immer anzusehen. Geschmeidig, filigran, durch-hörbar, im Schlusssatz von bemerkenswerter Eleganz. Zwiesprache zwischen dichterischen wie musikalischen Welten, das Ausloten der Möglichkeiten einer gemeinsamen Sprache: Das fasziniert und hat man so noch nicht gehört. Die Zeit verfliegt und wird phasenweise aufgehoben, weil man einfach staunen muss. Auch hier rauschender, begeisterter Applaus für ein beeindruckendes Gesamtensemble, das wie aus einem Guss agiert.
Menschen-verbindender Ort
Fünf Jahre Tauberphilharmonie: Im Feuilleton kann und darf man bewerten und einordnen. Wie ist das heutige Phänomen hochklassiger Aufführungen an so einem kleinen Ort wie Weikersheim möglich geworden?
Am Anfang stand eine Vision von einem menschen-verbindenden Ort. Bürgermeister Klaus Kornberger hatte sie gemeinsam mit Dr. Ulrich Wüster von der Jeunesses Musicales Deutschland perspektivisch entwickelt; der damalige Gemeinderat hat die Umsetzung trotz einiger Widerstände getragen. Der heutige Erfolg gibt den Verantwortlichen recht. Ohne dieses Konzert- und Veranstaltungshaus samt strukturierter Umgebung (Musikakademie, Proberäume, Übernachtungsmöglichkeiten) wäre ein Oscar-Komponist samt strahlendem Orchester wohl nie in Weikersheim gelandet.
Doch man muss nicht immer so groß wie in diesem Fall denken: Im Programm der Jeunesses wie der Philharmonie findet sich für jeden Kultur-Interessierten etwas. Weikersheim ist heute nicht nur ein Name in der autofahrbaren Umgebung, sondern entfaltet Strahlkraft national wie international. Dass dabei stets ein völkerverbindendes Element mitschwingt, ist wunderbar und angesichts vorgeblich „alternativer“ Entwicklungen sogar nötig.
Dafür kann man den Impulsgebern stellvertretend für alle „Mitträger“ auch einmal Danke für ihren langen Atem und ihre Überzeugungskraft sagen: „Thumbs up“ für Kornberger und Wüster.
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