Tauberphilharmonie Weikersheim

Jeder leidet und tanzt für sich allein

Patricia Carolin Mai stellt ihre Choreographie „Balagan Body“ in Weikersheim vor

Von 
Ulrich Rüdenauer
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Weikersheim. Gewalt, Angst, Liebe –Zustände, die etwas mit dem Körper anstellen, ihn durchrütteln, deformieren, derangieren. Chaotische Ausnahmesituationen, denen der Körper ausgeliefert ist und mit denen er umgehen muss. Im Hebräischen gibt es ein (aus dem Russischen importiertes) Wort dafür; es erfasst die ganze Vielfalt an solchen Gefühlsregungen: Balagan.

„Balagan Body“ – Chaos Körper – nennt die Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Patricia Carolin Mai ein dreiteiliges Projekt, mit dem sie sich seit mehreren Jahren beschäftigt.

Die Keimzelle dafür war eine Erfahrung im Jahr 2012. Damals lebte sie in Israel und sah sich selbst mit einer Extremsituation konfrontiert: einem Attentat, dem sie zwar unverletzt, aber als ein veränderter Mensch entkam. Wie unterschiedlich Individuen auf existenzbedrohende Momente reagieren, das untersucht sie in ihrer 2017 entstandenen und bis heute fortgeführten Arbeit. Mit dem zweiten Teil der Trilogie kam sie nun in die Tauberphilharmonie nach Weikersheim, wo sie bereits im letzten Jahr mit einer Gruppe von Laien an der Umsetzung des ersten Teils gearbeitet hatte. So geriet die Performance „Balagan Body“ fast zu einem Familientreffen – viele der Zuschauer kannten sich untereinander, und Mai wiederum kannte viele durch die intensive Probenarbeit des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Workshops.

Diesmal waren allerdings keine Laien auf der Bühne, sondern mit dem Tänzer Marcelo Dono, Patricia Carolin Mai selbst, dem Schlagzeuger Benjamin Kövener und dem Gitarristen Milan Lukas Fey ausschließlich Profis.

Die vier waren im weiten Zuschauerraum, der zur Bühne umgestaltet wurde, sternförmig aufeinander bezogen. Zwei Fix- und zwei im Raum flotierende Körper korrespondierten fortwährend, umkreisten sich, strebten auch immer wieder auseinander - als müsste in jedem Moment die Konstellation neu definiert, die Kommunikation neu verhandelt werden. Es war ein intensiver, denkwürdiger Abend, der beim Publikum geradezu einen Interpretationsüberschwang auslöste und in jedem einzelnen unterschiedliche Assoziationen triggerte. Das wurde deutlich, als die Protagonist:innen im Anschluss an die Aufführung Fragen zu ihrer Arbeit beantworteten.

Schmerz und Triumph

Der Abend beginnt mit einer sich nur langsam auflösenden Umarmung der beiden Tänzer, mit dem Auseinanderdividieren eines noch ungeklärten Körperverhältnisses: Vielleicht ist das eine Befreiung, die den Radius vergrößert; vielleicht aber auch eine Entäußerung, die eine neue Relation zwischen zwei der Welt und ihren Unbilden ausgesetzten Körpern erzwingt.

Was dann folgt, ist eine Stunde Anspannung, Ruhelosigkeit, Verausgabung, Ausgelassenheit, Schmerz, Freude, Triumph – eine ununterbrochene Bewegung, die von der Musik angetrieben oder von ihr aufgefangen wird.

Die beiden Körper kommen sich nicht mehr so nahe, wie sie es am Anfang waren. Sie agieren parallel, zuweilen aber auch spiegelbildlich. Sie scheinen in sich aufgehoben und mit ihren eigenen Verwirrungen allein. Es ist ein Ausgeliefertsein an den Rhythmus, dem sich auch das Publikum nicht entziehen kann. Lautstärke, der Puls des Schlagzeugs, die verzerrte Gitarre, bis zur Erschöpfung getriebene Körper, die sich manchmal in Gesten der Verzweiflung winden, manchmal mechanistisch auf das Äußere zu reagieren versuchen, erzeugen einen rauschhaften Zustand.

Dem beschädigten, verletzlichen, bedrohten Körper wird in einer Szene plakativ der hochenergetische, bewegungseuphorische Körper im Strobo-Licht eines Clubs entgegengesetzt.

Die Performance gerät insgesamt zur High-Energy-Leistungsshow, als müsste der in Extremsituationen verwickelte Körper sich nach ökonomistischer Logik immerzu in eine Bewegungsekstase retten. Schon klar, was gesagt werden will: Es soll und muss weitergehen, das Chaos, die Verstörung kann sich vielleicht nur durch eine körperliche Überreizung kompensieren lassen. Es wird durchaus auch der fragile, schutzbedürftige Körper gezeigt –eingerollt auf dem Boden, von den eigenen Armen fest umschlungen, ein Bündel an Unsicherheit, das sich nur langsam robbend von der Stelle bewegt.

Das hat etwas Rohes, Animalisches, Brachiales, Schonungsloses: das Individuum ganz auf sich zurückgeworfen. Man kann nicht sagen, dass die hier erzeugten Bilder sehr subtil wären; sie sind kraftvoll, kaum originell. Wäre der ästhetische Genuss von Darstellungen der Angst, Bedrohung, Gefahr überhaupt legitim?

Die Frage darf sich stellen, wer die hier vorgeführten, quälend wiederholten Körperzurichtungen als ein wenig gleichförmig empfindet (der Autor dieser Zeilen hat sich selbst dabei ertappt).

Was am Ende als großer Eindruck bleibt, ist das explosive Zusammenspiel von Sound und Movement, von mal filigranen, mal anschwellend-beatgetriebenen Klanggebilden und darin aufgehenden Körperpartituren, die in ihrer Monotonie schon wieder reizvoll sind und mehr etwas über unsere alltäglichen Zwangsroutinen auszusagen scheinen als über individuelle Schicksale. Das Stück ist zwar als Duett angelegt, aber zeigt doch zwei Einzelwesen. Jede(r) leidet und tanzt für sich allein. Der zweite Teil des Abends, das Gespräch mit dem Ensemble, brachte Erhellendes zum Entstehen der Balagan-Trilogie, zu einzelnen Körperbildern und choreografischen Entscheidungen. Die basieren auf Interviews mit Menschen, die katastrophische, erschütternde Erlebnisse schildern und deren Berichte, mehr noch aber das, was ihre Körper während der Interviews erzählen, von der Choreographin in Bewegungen und von den Musikern in Sounds übersetzt wurden. So werden einige enigmatische Bewegungsabläufe zwar einsichtiger; aber in ihrer Vereindeutigung auch ein klein wenig entzaubert.

Nichtsdestotrotz: Ein Abend, über den man wunderbar reden und diskutieren kann, und der auf unheimliche Weise an die Ereignisse vom 7. Oktober anknüpft, den Überfall der Hamas auf Israel.

Es ist ein Stück fürs Jetzt – was ließe sich Besseres sagen über Kunst, die sich mit unserer Welt beschäftigt.

Freier Autor

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