Tauber-Odenwald. Wenn an diesem Dienstag der Deutsche Apothekertag in Düsseldorf beginnt, richtet sich der Blick der gesamten Branche gespannt auf die Gesundheitsministerin Nina Warken. Die Tauberbischofsheimer wird dort erstmals in ihrer neuen Funktion vor hunderten Delegierten sprechen, von denen auch einige aus der Region Tauber-Odenwald kommen. Unter anderem geht es auch um die Frage, wie die Arzneimittelversorgung in Deutschland künftig stabilisiert werden kann. Frank Eickmann, Pressesprecher des Landes-Apothekerverbandes (LAV) Baden-Württemberg, zeichnet vorab ein deutliches Bild: „Wir haben seit Jahren ein massives Problem mit Lieferengpässen – und die Situation wird nicht besser, sondern eher schlechter.“
Für Frank Eickmann „nur die Spitze des Eisbergs“
Aktuell weist die beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geführte Liste 511 verschreibungspflichtige Medikamente aus, die nicht lieferbar sind. „Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, betont Eickmann im Gespräch mit den Fränkischen Nachrichten. „Die Meldung der Hersteller ist freiwillig, doch viele tun es nicht. Und nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel tauchen dort ohnehin gar nicht auf.“ In der Realität sei die Zahl also deutlich höher.
Besonders betroffen seien nach seinen Worten seit Monaten vier Bereiche: Antibiotika für Kinder, inhalative Asthmamedikamente mit Salbutamol, verschiedene Psychopharmaka sowie ADHS-Präparate. „Gerade bei Psychopharmaka ist es dramatisch, weil viele dieser Mittel noch unter Patentschutz stehen. Wir können also nicht einfach auf einen anderen Hersteller ausweichen. Dann braucht es für den Patienten eine komplett neue Therapie“, erläutert der Verbandssprecher.
Eine verbreitete Annahme, wonach Apotheken in ländlichen Regionen schlechter versorgt seien, weist er zurück: „Das ist unrichtig. Alle Apotheken bestellen beim Großhandel, der wiederum beim Hersteller. Das System ist für Stadt und Land also identisch.“ Unterschiede gebe es lediglich bei sehr großen Apotheken oder Onlinehändlern wie DocMorris, die über größere Lagerkapazitäten verfügten und daher zeitweise mehr Vorräte hätten. „Aber grundsätzlich gilt: Wenn ein Medikament in der Region Tauber-Odenwald nicht lieferbar ist, dann ist es in Stuttgart genauso wenig verfügbar.“
Für die bevorstehende Herbstsaison sieht Eickmann zumindest einen Lichtblick: „Im letzten und vorletzten Jahr hatten wir massive Lücken bei klassischen Erkältungsprodukten wie Hustensäften oder Fiebersäften. In diesem Jahr kündigt sich das nicht an. Die Apotheken sind gut bevorratet.“ Auch bei gängigen Breitbandantibiotika sei die Versorgung stabiler, weil in der Regel auf andere Hersteller ausgewichen werden könne.
Für Patienten mit chronischen Erkrankungen rät Eickmann jedoch zur Vorsicht: „Bitte gehen Sie rechtzeitig zum Arzt und holen Sie sich ein Folgerezept, bevor die letzte Tablette im Blister liegt. Und bringen Sie das Rezept sofort in die Apotheke. Zeit ist hier unser wichtigster Helfer, weil wir dann oft doch noch Ware beschaffen können.“
Die Ursachen der Engpässe seien vielschichtig. Eine zentrale Rolle spiele die Verlagerung der Wirkstoffproduktion nach Asien. „Indien und China sind die Hauptlieferanten. In Europa werden zwar noch Tabletten hergestellt, aber die Wirkstoffe kommen fast ausschließlich von dort“, sagt Eickmann. Damit sei Deutschland abhängig von weltpolitischen Entwicklungen, Zollstreitigkeiten oder Produktionsproblemen in Fernost.
Noch gravierender sei jedoch die wirtschaftliche Situation: „In Deutschland sind bestimmte Arzneimittel so billig, dass sich ihre Produktion für Hersteller schlicht nicht mehr lohnt.“ Frank Eickmann erinnert an den Engpass bei Kinderantibiotika vor zwei Jahren. „Damals haben wir in Deutschland nichts mehr bekommen, während in Österreich die Regale voll waren. Der Grund: In Deutschland waren die Preise so stark nach unten gedrückt, dass der Hersteller draufgezahlt hätte.“
Auch Rabattverträge der Krankenkassen verschärften das Problem. „Wenn eine Kasse nur noch mit ein oder zwei Herstellern arbeitet, steigen die anderen aus. Kommt es dann bei einem dieser wenigen Produzenten zu Schwierigkeiten, bricht der Markt zusammen.“
Branchenkenner vertreten die Auffassung, dass Medikamente in Deutschland eigentlich teurer werden müssten. Dazu der Pressesprecher: „Die Apotheke selbst verdient daran nicht mehr, egal wie hoch der Preis ist. Aber wir brauchen einen Markt, der für Hersteller attraktiv ist. Sonst ziehen die sich zurück.“ Selbst der ehemalige Gesundheitsminister Karl Lauterbach habe schon eingeräumt, dass die „Daumenschraube“ beim Preisdruck zu stark angezogen worden sei.
Die Folgen spürten vor allem die Patienten. Eickmann berichtet von Brustkrebspatientinnen, die monatelang ein bestimmtes Präparat einnehmen müssten und plötzlich mit leeren Händen dastünden: „Für diese Frauen ist das eine furchtbare Angst-Situation.“ Auch psychisch Erkrankte seien besonders gefährdet. „Stellen Sie sich einen suizidgefährdeten Patienten vor, der sein Medikament nicht mehr bekommt. Das kann dramatische Folgen haben.“
Die Politik habe das Problem längst erkannt, sagt LAV-Mann Eickmann. Doch Lösungen seien jedoch schwierig, weil nationale Alleingänge kaum ausreichten. „Es braucht eine europäische Strategie, um Wirkstoffproduktion zurückzuholen. Aber das bedeutet höhere Kosten, weil hier andere Löhne und Umweltstandards gelten.“
Immerhin habe die Bundesregierung nach den Engpässen bei Kindersäften reagiert und die Erstattungspreise für bestimmte Präparate angehoben. „Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Aber die Probleme sind viel größer.“
Neben den Lieferengpässen kämpften die Apotheken selbst ums Überleben. „Seit 13 Jahren gab es keine Honoraranpassung. Gleichzeitig steigen Löhne und Kosten. 2024 haben 550 Apotheken in Deutschland geschlossen – das sind mehr, als es im ganzen Bundesland Thüringen gibt.“ Der Trend halte an. Besonders dramatisch sei der Personalmangel. „Ein Kollege nahe Ulm findet kein Personal mehr, weil Ratiopharm seine Fachkräfte abwirbt und besser bezahlt. Das können Apotheken nicht mehr leisten.“
Automaten- und Onlineversorgung droht hierzulande
Frank Eickmann warnt vor den Folgen: „Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, steuern wir auf eine Automaten- und Onlineversorgung zu. Aber was wir brauchen, ist persönliche Beratung vor Ort, die Versorgung von Pflegeheimen und Krankenhäusern. Das leisten Apotheken – aber nur, wenn sie wirtschaftlich überleben können.“
Mit Blick auf den Apothekertag in Düsseldorf hofft Eichmann auf konkrete Signale der neuen Gesundheitsministerin Nina Warken: „Wir in der Apotheke haben den Auftrag, die Menschen mit Arzneimitteln zu versorgen. Dafür brauchen wir diese Arzneimittel auch. Es ist die Aufgabe des Staates, verlässliche Lieferketten zu sichern. Das kann die Apothekerschaft nicht selbst leisten.“
Die Verantwortung liege klar bei der Politik. „Wir erwarten, dass die Ministerin darlegt, wie sie die bekannten Probleme angehen will – und in welchem Zeitrahmen. Es geht nicht nur um die Zukunft der Apotheken, sondern um die Versorgung der Patienten.“
Der Deutsche Apothekertag beginnt an diesem Dienstag und dauert bis Donnerstag. Höhepunkt wird die Rede von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken am Dienstagmittag sein. Die Apotheker werden sehr genau hinhören, ob die Politik ihren Sorgen gerecht wird.
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