Kassenärztliche Vereinigung

ePA: Missverständnisse durch Diagnose-Codierung

Die Verwendung elektronischer Patientenakten (ePA) nimmt gut einen Monat nach Beginn des verpflichtenden Einsatzes für Ärzte zu. Doch laut Kassenärztlicher Vereinigung kann die Diagnose-Codierung zu Missverständnissen führen.

Von 
Sabine Holroyd
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Ein Hausarzt lädt in seiner Praxis Dokumente in eine elektronische Patientenakte „ePA“. © picture alliance/dpa

Tauber-Odenwald. Die Verwendung elektronischer Patientenakten (ePA) zieht einen Monat nach Beginn des verpflichtenden Einsatzes für Ärzte an. Im Oktober wurden 10,6 Millionen Dokumente hochgeladen, wie aus Daten der mehrheitlich bundeseigenen Digitalagentur Gematik hervorgeht. Insgesamt gibt es demnach inzwischen 37 Millionen Uploads in die neuen E-Akten, wovon etwas mehr als die Hälfte auf medizinische Befunde und Berichte entfällt.

„KVBW kann keine Korrekturen vornehmen“

Nun meldet sich die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) zu Wort: „Die Diagnose-Codierung kann zu Missverständnissen in der elektronischen Patientenakte führen“, heißt es in ihrer Pressemitteilung. Es gebe Berichte, die besagen, dass Patienten erstmals durch Einsichtnahme in die ePA von ihnen selbst bisher unbekannten Diagnosen erfahren. In Einzelfällen könne die Dokumentation bestimmter Diagnosen sogar Nachteile für betroffene Patienten mit sich bringen, etwa beim Abschluss privater Kranken-, Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherungen. Dieses Thema ist daher auch beim Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW), Dr. Karsten Braun, aufgeschlagen. Doch die KVBW sei der falsche Ansprechpartner, wenn Patienten eine Diagnosekorrektur wünschen, heißt es in der Pressemitteilung . „Wenn Patienten Diagnosen korrigiert haben möchten, müssten sie sich an den behandelnden Arzt wenden. Die KVBW kann keine Korrekturen vornehmen“, so stellt Dr. Braun gegenüber den FN klar.

Doch was hat es mit den Diagnose-Codes in der ePA genau auf sich? „Die Thematik ist komplex, und eine Diagnose-Codierung ist keineswegs allein mit dem Thema Abrechnungsoptimierung für Ärzte zu erklären“, sagt Braun. Hierzu erläutert die KVBW: „Jeder Arzt oder Psychotherapeut muss gesetzlich zwingend eine oder mehrere Diagnosen angeben, die den Behandlungsanlass bestmöglich beschreiben. Sonst kann eine Leistung nicht abgerechnet werden. Ebenso sind die Diagnosen verpflichtender Bestandteil von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen („Krankmeldungen“). Die Diagnoseerhebung und -dokumentation ist damit keineswegs nur für die Behandlung wesentlich, sondern spielt auch im Regelwerk des Gesundheitssystems eine zentrale Rolle.“

Über eine Milliarde ICD-Codes jährlich

Die Diagnoseangabe erfolge durch Verwendung der internationalen ICD-10-Codierung (International Classification of Diseases). Hierbei handele es sich um einen siebenstelligen Buchstaben- und Zahlencode, der aus einer Gesamtzahl von über 12.000 Codes ausgewählt werden muss. Das Verzeichnis der ICD-Klassifikation ändere sich zudem einmal jährlich mit rund 50 bis 150 neuen ICD-Codes und 30 bis 50 gestrichenen oder zusammengeführten Codes. Oft entsprächen die in der ICD-Klassifikation verwendeten Begrifflichkeiten auch nicht genau der praxisüblichen Terminologie, was Schwierigkeiten in der Umsetzung bringe. Insgesamt würden in Deutschland pro Jahr mehr als eine Milliarde ICD-Codes erzeugt. Die KVBW checkt im Rahmen der Abrechnungsprüfung die Diagnosen auf Plausibilität. Anhand von Stichproben prüfe sie zudem über die Behandlungsdokumentation, dass die Leistung tatsächlich erbracht wurde.

Für die Patienten komme erschwerend hinzu, dass die ICD-Codes noch Informationen enthalten, die über die eigentliche Diagnose hinaus gehen. Denn die Codierung zeige auch an, ob die Diagnosen gesichert und damit für den Art endgültig sind oder ob es sich lediglich um einen Verdacht handelt, der Anlass für den Arztbesuch war, sich aber nicht bestätigt hat. Weiter würden auch Diagnosen gekennzeichnet, die der Arzt ausschließt - und sogar der Wegfall eines Symptoms nach einer früheren Erkrankung werde angegeben.

Diagnosen schon aus dem Kindesalter

Für die ärztliche Behandlung sei weiter die Kenntnis von Dauerdiagnosen von Bedeutung. Dabei handele es sich um Diagnosen aus der Krankengeschichte eines Patienten, die für die weitere Behandlung auch künftig von Relevanz sein könnten. Oft stammten bestimmte Diagnosen bereits aus dem Kindesalter, so dass Versicherten eine entsprechende Vorbehandlung selbst nicht mehr in Erinnerung ist, die Diagnose sich aber in der Praxis-EDV des Arztes und damit auch in der Leistungsabrechnung fortpflanze. „Öfters werden auch Diagnosen aus Arztbriefen, die von anderen Behandlern und Krankenhäusern in der Praxis eingehen, mit der jeweiligen ICD-Codierung in den Praxen übernommen“, führt Braun aus. Viele Versicherte würden sich nicht immer an alle vergangenen Behandlungsanlässe und die damaligen Diagnosen erinnern.

Die Angabe solcher Diagnosen könne für die Leistungsabrechnung relevant sein, auch wenn im jeweiligen Behandlungsquartal primär ein anderer Behandlungsanlass bestand. Besonderes Erstaunen löse bei Patienten eine psychosomatische oder psychosoziale Diagnose aus. Viele Erkrankungen würden nachgewiesenermaßen durch psychische Zusammenhänge beeinflusst. Die Häufigkeit psychischer Erkrankungen als Ursache für Arbeitsunfähigkeit sei in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Seit langem werde daher von Ärzten gefordert, derartige Zusammenhänge besser in Diagnostik und Therapie zu berücksichtigen.

Braun: „Das machen unsere Ärzte auch regelmäßig und rechnen das natürlich auch bei der KV ab. Wenn solche Leistungen erbracht und abgerechnet werden, ist zwingend mindestens die Angabe einer Verdachtsdiagnose aus der Gruppe dieser Erkrankungen erforderlich. Damit steigt die Zahl der angegebenen Diagnosen mit einem psychischen Hintergrund, auch wenn sich ein solcher Zusammenhang letztendlich nicht bestätigt - und auch, wenn das den Patienten zunächst nicht bewusst ist. Das kann beispielsweise dazu führen, dass der Patient wegen Rückenschmerzen zum Arzt geht, dort aber neben den Schmerzen eine fordernde, rückenschmerzverstärkende Belastungssituation am Arbeitsplatz in die Codierung einfließt.“

Diagnose-Codes seien ebenfalls erforderlich, um die Verordnung von Medikamenten zu rechtfertigen. Denn eine Verordnung ohne zur Zulassung des Medikaments passenden Diagnosecodes führe in vielen Fällen zu einem Regress für den Arzt. Braun nennt Beispiele: „Wenn beispielsweise im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen leitliniengerecht ein stimmungsaufhellendes Medikament verordnet wird, entsteht so folgerichtig ein Diagnosecode aus dem psychischen Bereich, um der Zulassung des Medikaments gerecht zu werden. Ähnliches gilt für angstlösende Medikation bei Prüfungs- oder Flugangst.“

Risiken für das Vertrauensverhältnis

Die durch die ePA erzeugte Behandlungstransparenz könne also aus vielen Gründen auch zu Missverständnissen und Risiken im Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt führen. Diagnose-Codierung im Zusammenhang mit Abrechnungs- und Wirtschaftlichkeitsprüfung sei laut KVBW außerdem „ein gutes Beispiel für Überkontrolle und Überbürokratisierung unseres Gesundheitswesens“. Die Kassenärztlichen Vereinigungen fordern dahingehend rasche Entlastungen der Praxen durch einen Bürokratieabbau.

Weitere Informationen gibt es hier

Dr. Karsten Braun. © Udo Schäfer

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