Merchingen/Braunsbach. Die Geschichte, die Walter Kämmer im FN-Gespräch erzählt, spricht sich erst nach und nach herum. Dabei ist sie so unglaublich: In der Flutnacht von Braunsbach wird der Mediziner auf dem Rückweg von einer Probe mit dem Klezmer-Ensemble "Kleztett" vom Unwetter überrascht. Er fährt in Braunsbach mit seinem Auto rechts ran, wird von der heranrauschenden Flutwelle erfasst und durch den Ort gespült, durch das Bachbett geschleift und in den Kocher getrieben, immer umtost von mitgerissenen Fahrzeugen, Baumstämmen, Tischen.
In seinem immer noch trockenen BMW sitzend treibt Kämmer den Fluss entlang, bis das Auto zu versinken droht. Er lässt geistesgegenwärtig die Zündung an, um ein Fenster zu öffnen, schwingt sich aus dem Fahrzeug, schwimmt durch die reißende Strömung an Land, erreicht das Ufer und schlägt sich durch bis Braunsbach, wo er auf eine große Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft stößt.
Von Panik will Walter Kämmer im Zusammenhang mit dem Erlebten nicht reden. Denn das klingt nach Kopflosigkeit. Rückblickend habe er vielmehr das Gefühl, sein Gehirn habe auf Hochtouren gearbeitet.
Konkrete Angst hatte er natürlich schon: Das erste Mal, als die Autos, Mülltonnen und Baumstämme hinter und neben ihm in der rasenden Flutwelle durch die Straßen gespült wurden und drohten, ihm die Windschutzscheibe zu durchschlagen. "Ich wusste, das würde mich umbringen." Da stand er mit seinem BMW noch in Braunsbach, wo er auf Höhe der Burgenlandhalle den schlimmsten Regen abwarten wollte.
In dem Moment konnte Kämmer noch sehen, aber dann schwappten die Wassermassen schon rauschend über das Auto, es wurde dunkel und das Fahrzeug geriet in Bewegung. Beängstigend, so berichtet Kämmer, waren auch die Momente, als das Fahrzeug mit "Mordsgeschwindigkeit" und Lärm gegen eine Garage gedrückt wurde und schließlich polternd durch das Bachbett geschoben wurde. "Hoffentlich hält das Chassis", sei sein Gedanke gewesen.
Die "Fahrt" auf dem Kocher war dann eher ein Moment zum Nachdenken: "Da hatte ich am wenigsten Angst. Ich saß ja noch im Trockenen. Aussteigen wäre zu gefährlich gewesen, bei dem ganzen Treibgut ringsum, das mit rasender Geschwindigkeit heranströmte. Also blieb ich sitzen."
Doch dann drang Wasser über den Motorraum ins Innere des Wagens, Kämmers Füße wurden nass. "War's das jetzt?", habe er sich gefragt, dann aber entschieden: "Ich muss handeln". Die Türen ließen sich wegen des Wasserdrucks keinen Millimeter öffnen, also setzte Kämmer auf den elektrischen Fensterheber - mit Erfolg, denn die Batterie unterm Rücksitz war trocken geblieben.
Rettendes Ufer erreicht
Aus dem Fenster zu kommen war gar nicht so schwierig für den sportlichen 67-Jährigen, aber das rettende Ufer zu erreichen dann schon. Die Strömung zwang ihn immer wieder in die Mitte des Flusses, bis er schließlich, beim dritten oder vierten Versuch, Äste an der Böschung zu fassen bekam. "Als ich dann am Ufer stand, wusste ich: Ich bin gerettet". Noch nicht ganz, wie sich herausstellte, denn der Weg ins nähere Döttingen war versperrt. Also wendete sich Kämmer wieder Braunsbach zu und arbeitete sich, weil Straßen und Wiesen überflutet waren, an der Böschung entlang, in der heranbrechenden Dunkelheit immer wieder abrutschend und stolpernd, vorwärts. "Ich bin der Mann, der aus dem Kocher kommt" - das waren die Worte, mit denen er die Feuerwehrleute begrüßte.
Wie lange die Odyssee dauert, kann Kämmer rückblickend nur schwer einschätzen. Gegen 20 Uhr hielt er in Braunsbach, die etwa zwei Kilometer lange "Fahrt" auf dem Fluss kann 20 Minuten gedauert haben, der Marsch in den Ort dann eine oder anderthalb Stunden, das bleibt offen. Die Uhr war verloren, das Handy wie auch seine wertvollen Instrumente in den Fluten "ertrunken".
Von einem Braunsbacher Arzt aus, der ihm Quartier gab, konnte Kämmer seine erleichterte Frau anrufen. Überwältigend sei die Herzlichkeit gewesen, mit der ihm von allen Seiten geholfen wurde, unterstreicht Kämmer.
Sein Auto wurde drei Tage danach total demoliert aus dem Kocher gezogen. Seine ebenfalls beschädigte Bassklarinette wurde tatsächlich gefunden: Viele Kilometer flussabwärts in Neuenstadt. Vor wenigen Tagen erst hat Kämmer sie zurückbekommen.
"Ich habe großes Glück gehabt. Es war nicht kalt, es war nicht dunkel, es hätte ja auch im Winter passieren können", sagt Kämmer. Doch: "Vieles relativiert sich im Leben nach so einer Erfahrung". Bei manchem Problem frage man sich doch, ob es wert sei, sich aufzuregen.
Alltagserleben ist heute anders
Noch immer träumt der Mediziner von der Nacht in den Fluten, "aber ich bin auch da noch nie ertrunken". Wenn wieder Mal ein starker Regenguss kommt, habe er keine besondere Angst.
Das sei nicht seine Art. Auch im Berufsleben - Kämmer praktizierte gemeinsam mit seiner Frau 31 Jahre lang in Merchingen - habe er lernen müssen, mit emotionalen Erfahrungen klarzukommen. Sein Sohn hat ihm allerdings einen Notfallhammer besorgt, und der liegt jetzt immer im Wagen.
Und geändert hat sich doch etwas: Kämmer ist entschlossen, die erhaltenen "Stunden der Verlängerung" sinnvoll zu nutzen, für die Familie vor allem, und für die Musik. "Wenn man sich sagt, man könnte nun auch auf der letzten statt auf der ersten Seite der Zeitung stehen, dann erlebt man den Alltag intensiver."
Seine Querflöte hat Kämmer übrigens nicht zurückbekommen. "Auf der spielt jetzt der Kocher-Nöck", lacht der Mediziner. Denn der Wassergeist sei ein großer Klezmer-Fan geworden.
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