Oberstetten. Über die vermeintlich wichtigen Leute wird gerne und viel geschrieben. Wer sich selbst nicht ganz so wichtig nimmt, der entschwindet mit seinem Tod schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung, selbst wenn er „draußen“ unterwegs und zeitlebens recht bekannt war.
Heute in die Geschichte von Friedrich Dinkel einzutauchen hat jede Menge Fußarbeit und Redezeit erfordert. Und auch nach vielen Gesprächen und Hinweisen bleibt einiges wohl für immer im Dunkeln.
Für die heute Alten in und um Oberstetten ist der „Pulverfritz“ aber immer noch ein Begriff. Im hohenlohischen Dialekt wird der Spitzname mit weichem „B“ natürlich korrekt „Bulverfritz“ ausgesprochen.
Unten am alten „Hexenstäffele“, die zwischen zwei steilen, teilbebauten Hanggrundstücken das Nieder-stettener Wohngebiet am Alten Berg mit dem kleinen Vorbachpfad „am Bach entlang“ verbinden, liegt das Ziegelbrünnele. Dort befand sich eine der letzten Stationen von Fritz Dinkel im abschließenden Drittel der vorigen Jahrhunderts.
Von den Nachbarn angemessen und ehrenvoll als „Herr Dinkel“ gegrüßt, weichte dort „der Fritz“ im Vorbach bündelweise seine rotgelben Weidenruten ein. In dem länglichen, flachen Becken im Uferbereich, von Kalksteinen begrenzt, konnten sich die steinbeschwerten Ruten vollsaugen, bis sie geschmeidig genug zum Korbflechten waren. Das konnte einige Tage dauern – und es kam vor, dass böse Buben die Zweige versteckt haben. Der Fritz schimpfte darüber nicht, aber geklagt hat er doch. Und dann hat er neue Ruten eingeweicht. Das Korbflechten mit den bäuerlich abgeschafften und doch starken Händen: Aufbessern seiner kargen Rente.
Wo kam Fritz Dinkel – er war Jahrgang 1902 und lebte zuletzt mit seiner Frau Marie „Am Alten Berg 12“ in Niederstetten – her? Er war ursprünglich Oberstettener. Der Wohnplatz „Höllhof“, etwa zwei Kilometer entfernt oben auf der Hochebene gelegen, war sein zweites Zuhause – zeitweise lebte er auch dort.
Durchs grüne Tal und über die weiten Höhen: Wandern auf den Spuren des „Pulverfritz“
Parkmöglichkeiten im Bereich des Reutalswegs in Oberstetten östlich der Querung Höllhofsteige (landwirtschaftliche Ausfahrten beachten).
Dem Weg rund 1,5 Kilometer in das wunderschöne Tal folgen bis zum Gestüt Reutalmühle.
Rund 250 Meter weiter, kurz vor einer Wegkreuzung am Reutalbach, befindet sich linker Hand der ehemalige Kalkbrennofen.
Wenige Meter weiter an der Wegkreuzung führt vor einer Schranke ein alter Weg hart links steil durch den Wald den Hang hinauf. Am oberen Waldrand hart rechts abbiegen. Nach 200 Metern geht es links zum bereits sichtbaren Höllhof.
Hier können Kurzwanderer einfach dem Verlauf der kleinen Ortsverbindungsstraße nach Westen folgen und gelagen links hinunter mit phantastischem Ausblick auf Oberstetten wieder zurück zum Ausgangspunkt.
200 Meter hinter Höllhof befindet sich rechter Hand hinter Bäumen ein spektakulärer Erdfall (Doline). Er gehört zum großen Naturschutzgebiet „Oberrimbacher Erdfälle“.
Wer mehr Zeit hat, der wendet sich an der abfallenden Höllhofsteige hart rechts und wandert Richtung Heeresflugplatz. Am Zaun entlang führt der Weg zur westlichen Ausbuchtung der Startbahn. Hier weiter nordwestlich bis zur Fünffachgabelung der Heftensteige. Die alte Straße führt hinunter nach Niederstetten zum MHZ-Firmengelände.
Nach einem langgezogenen MHZ-Betriebsgebäude (rechts) geht es links auf einen Feldweg in südliche Richtung. Hangparallel führt der Weg durch aufgelassene Weinberge und Steinriegel etwa 2,5 Kilometer nach Oberstetten hinunter in die Talstraße.
Der Talstraße folgen – am Ende geht es abwärts und links auf den Reutalweg. Das kurze, letzte Wegstück kreuzt die Höllhofsteige – wir sind zurück am Parkplatz. mrz
Millionen Jahre alt
Höllhof ist ein bemerkenswerter Ort: Wie bei einer Miniatur-Westernstadt führt die kleine Straße von Wildentierbach her mittendurch nach Oberstetten. Oder umgekehrt. Es gibt nur zwei landwirtschaftliche Anwesen und eine „Dorflinde“ auf der nördlichen Straßenseite. Die Wohnhäuser: Kompakt und stabil aus Muschelkalk aufgemauert, sind sie Musterbeispiele früherer Bauernhöfe, die wie selbstverständlich den umgebenden Feldern zu entwachsen scheinen. Schmucklos und doch würdig mit ihren rauen Oberflächen; das Baumaterial Millionen Jahre alt.
Hier hat Fritz Dinkel geholfen, die Felder zu bestellen, zu sähen und zu ernten. Doch er hatte noch einen spannenden und gefährlichen Zweitberuf: Dinkel war Sprengmeister und damit der „Pulverfritz“.
Der langjährige Ortsvorsteher von Oberstetten Friedrich Hahn erinnert sich: Um 1956 legte ein schwerer Sturm zahlreiche Bäume im „Hohberg“ Richtung Weilerhof um. Es war die Nachkriegszeit; Bau- und Feuerholz waren begehrt und auf die Wurzeln des Sturmholzes konnte nicht verzichtet werden. Ein Großeinsatz für den Pulverfritz also.
Das Wurzelsprengen erfolgt heutzutage nur noch an schwer zugänglichen Stellen wie Felsabhängen. Meistens werden die Baum-stümpfe heute mit Baumaschinen, Baggern, Radladern oder mit einer Wurzelfräse entfernt. Das alles gab es damals nicht. Es blieb nur die gefährlich Handarbeit von Dinkel mit Explosivladung, Zündschnur und Feuer.
Ein Problem ist vor allem das Abschätzen der richtigen Sprengstoffmenge. Ein Überschätzen kann heftigen Splitterflug verursachen, so dass der Absperrbereich entsprechend erhöht werden muss. Wo dies nicht möglich ist, herrscht Lebensgefahr – nicht nur für den Sprengmeister selbst, sondern auch für die Naseweisen.
Mysteriöses Bauwerk im Tal
Seinen Sprengstoff musste der Pulverfritz außerhalb der Ortschaft sicher verwahren. In einem speziellen „Bunker“, den die Familienhistorie der Dinkels im Reutal verortet. In der Tat findet sich noch heute direkt am Weg oberhalb der Reutalmühle ein „Betonbunker“. Das mysteriöse Bauwerk ist aber ein Überrest einer Kalkbrennerei; innen mit Natursteinen aufgemauert mit einem umlaufenden „Bänkchen“ – darauf befand sich wohl einmal ein Rost für die darunter liegende Feuerung und für den richtigen Zug.
Der Reutal-Ort mit seiner Bunker-Optik hat etwas Suggestives, doch der Lagerraum des Pulverfritz befand sich in wahrscheinlich oberhalb der Oberstettener Talstraße an einem Steinriegel nahe des heutigen Wohnhauses der Familie Scheu. Ortsvorsteher a.D. Hahn braucht mit einem alten Foto zwar eine Weile – aber er kann den Stadtort lokalisieren. Heute steht da ein Strommast.
Vor über einem halben Jahrhundert gab es das Wohngebiet nicht, hier war „Außenlage“ und wohl auch in der Vorkriegszeit einmal ein kleiner Schießplatz. Nicht unwahrscheinlich also ist, dass der Pulverfritz, zumindest nach dem Krieg, einen Verschlag dort für seinen Sprengstoff genutzt hat.
Der große Luftangriff durch die Amerikaner auf Niederstetten mit 18 Toten, 80 abgebrannten Häuser und 70 verlorenen Scheunen am 9. April 1945 überdeckt weitgehend das Schicksal der nur wenige Kilometer entfernten „Oberen Stätte“: Auch hier hatten sich in den letzten Kriegstagen deutsche Truppen festgesetzt und die US-Truppen griffen mit Artillerie an. Standort der Geschütze dürfte u.a. die „Höhe 447“ bei Adolzhausen gewesen sein. US-Späher, so wird berichtet, arbeiteten sich bis auf den Vorbach-Bergsporn „Bühl“ am Stegmühlenbach vor und wiesen die Schützen ein.
Zehn Kriegsbeteiligte wurden bei den Angriffen in der Zeit von 9. bis 12. Mai getötet. Ihre Gebeine ruhen in der Kriegsgräberstätte an der Oberstettener Kirche. Im Dorf wurden zahlreiche Gebäude zerstört, bis die ersten amerikanischen Panzer über die „Heften“, also von Nieder-stetten aus südöstlich, oberhalb der Ortschaft auftauchten. Ein ziviles Opfer gab es auch in der Dorfgemeinschaft: der nur sechsjährige Friedrich Hahn – namensgleich und befreundet mit dem späteren Ortsvorsteher und „Bierbrauer“ – kam bei den Kämpfen durch Granatsplitter ums Leben.
Versteckt vor den Amerikanern
Friedrich Dinkel packte beim Herannahen der Amerikaner die Angst: Obwohl er Zivilist geblieben war, herrschte überall Furcht vor den „Eroberern“, vor allem, wenn man Waffen oder Sprengstoff besaß. In der Tat wurde wohl nach dem Pulverfritz gefahndet, doch der versteckte sich. War die Luft rein, versorgte ihn seine Ehefrau in seinem Versteck mit Essen. Später gab Friedrich Dinkel seinen explosiven Nebenerwerb als Sprengmeister auf – und wurde Mitarbeiter in Bau- und Instandsetzungstrupp der Firma MHZ Hachtel in Niederstetten. „Fritz Dinkel – Weiße Eule!“, sagt spontan Jochen Hachtel, heute Geschäftsführer beim Sicht- und Sonnenschutzhersteller. Als Kind hat er den Pulverfritz kennengelernt mit seinen „Eulen“-Stumpen, die dieser gerne zwischendurch rauchte. „Er war eine Persönlichkeit. Ruhig und warmherzig“, erinnert sich Hachtel.
Eine Handvoll Fotos im Familienalbum, einige Orte und ein paar Erinnerungen an einen bescheidenen Menschen – mehr bleibt nicht von einem ganzen, langen Leben? Jetzt ist spät noch eine Zeitungsgeschichte hinzugekommen und ein kleiner Wandertipp (siehe Infokasten): Auf den Spuren und ein wenig mit den Augen des sanften „Pulverfritz“.
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