Hollenbach. Mit dem vom Thema her hochaktuellen Stück „Der starke Stamm“ feierte das Theater Hollenbach jetzt in der Dreschhalle eine vielbeklatschte Premiere.
Jeder gegen jeden: Als das bereits während der letzten Kriegsjahre von der aus Ingolstadt stammenden Avantgarde-Autorin Marieluise Fleißer verfasste Stück 1950 seine Uraufführung erlebte, war ihre als Volksstück konzipierte Kapitalismuskritik so aktuell, dass das Publikum alles andere als amüsiert reagierte.
Kein Wunder also, dass auch heute dem Publikum oft das Lachen im Hals stecken bleibt, wenn die Protagonisten im unverhohlenen Streben nach Reichtum nur haarscharf die Grenze zum Blutvergießen einhalten. Dabei fängt alles zwar gewittrig-düster, aber noch halbwegs harmlos an: Durchs Dreschhallenpublikum zieht eine kleine Trauergesellschaft ein. Sattlermeister Bitterwolf – sein Vorname Leonhard fällt erst sehr spät im Stück – hat seine Frau Zenta zu Grabe getragen.
Schon zwischen Kirchgang und der Aufwärm-Kaffeerunde im engeren Familienkreis mit Magd Anni (Jessica Ortner), die den Witwer (Roland Wunderlich) bedient, Zentas Schwester Babina (Birgit Herrmann), ihrem Bruder (Ulrich Hartmann), einem Vetter (Karlheinz Reiss) und Bitterwolfs Sohn Hubert (Julian Gräf) wird klar: Hier geht’s nicht nur um Trauer.
Radikal auf Vorteil bedacht
Schnell lockern sich die Zungen, wird über die Hinterlassenschaften – Nähmaschine, Mantel, Hose, blaues Kleid und Leibwäsche – gestritten. Schweigsam nur einer: Hubert, der Sohn mit wilder Mähne. Künstler will er werden, ein Unding im Kleinbürgermilieu, das nicht das Mindeste anfangen kann mit derart brotlosen Ambitionen. „Sinn mer denn unter die Reiwer g’falle mit unsre Verwandte?“, fragt er kritisch.
Noch in die Kaffeerunde platzt Annis Mutter (Margot Busch – köstlich authentisch). Im Männerhaushalt mit Witwer und Sohn mag sie die Tochter nicht lassen. „Hat er scho kratzt an deiner Tür?“, fragt sie, doch Anni beschwichtigt. „Mer lasses, wie’s is,“ akzeptiert schließlich die Mutter. Sorgt sich auch Balbina angesichts der Situation? Der Schwester habe sie’s versprochen, argumentiert sie beim nicht gerade erwünschten Einzug bei Bitterwolf. Der aber tut sich schwer, sich zur Wehr zu setzten gegen die bärbeißig-durchsetzungsstarke Balbina. Reich will die werden, hat schon die Spielautomaten organisiert – mit Geld aus der Sattlerei, das sie kurz vor Zentas Tod ihrer Schwester noch aus dem Kreuz geleiert hat.
Gekonnt wechselt Birgit Herrmann ihre Rollen in der Familie: aus der trauernden Schwester wird die furios Regie führende Frau im Haus, die auf Einheirat bedachte Verführerin, die ideenreiche, radikal auf ihren Vorteil bedachte Geschäftemacherin, die sich nicht scheut, als gnadenlose Rächerin auch mit einem guten Schuss krimineller Energie die Kundschaft ebenso wie die Familie auszunehmen.
Von Akt zu Akt – vier zwischen Ostern und dem folgenden Spätwinter hat Marieluise Fleißer angelegt – spitzen sich die Konflikte zu. Zwischen Vater und Sohn gärt es ohnehin schon seit langem: Das Duo Wunderlich/Gräf spielt die Konflikte um die beruflichen wie privaten Lebenspläne fast schmerzhaft aus. Sehenswert, wie Bitterwolf bei der Aussicht auf Gewinnmaximierung anfängliche Skrupel beiseite wischt, verführt nicht nur von Balbina, sondern auch vom ebenfalls stets aufs Geld bedachten Metzgerjackl (hochpräsent dargestellt von Dominik Weidmann). Und dazwischen: Anni, die Dienstmagd, jung, brav, doch einem Flirt, der sie weiterbringen könnte, nicht gänzlich abgeneigt. Perfekt nimmt Jessica Ortner den Kampf gegen die herrische Balbina auf.
Als Bühnenbild ist ein einziger Raum des offensichtlich großen Anwesens mit Werkstatt, Hof, Räumen und Kammern fürs Publikum sichtbar – die Stube mit großem Familientisch, Gemälde, Nähmaschine, einem Arzneischränklein, in dem der Schnaps auf Gebrauch harrt, dazu Kommode, Schrank, Garderobe.
Grausiges Schattenspiel hinterm Fenster zum Hof, unsichtbare Verwandlungen und Verirrungen in den Nebengelassen – und im Außen, nur hörbar, Stichwort gebende Einsätze: Balbinas Einzugsfuhrwerk, Huberts auf röhrendem Motorrad absolvierte Geldeintreiber-Einsätze. Die für Bühnenbau, Technik und Maske zuständigen Teams haben Präzisionsarbeit geleistet. Es ist eine fast griechisch anmutende Tragödie, in der jede und jeder mit jeweils eigenen Mitteln und Ambitionen Täter wird – und zugleich Opfer ist. Gier, Unehrlichkeit, Machtwille.
Selten zum Lachen zumute
Schließlich gibt’s ja auch noch den Erbonkel von Rottenegg, souverän dargestellt von Rudi Schlecht, mehrfach erwähnt in Gespräch und Zank, doch erst gegen Ende leibhaftig zu sehen. Überwältigend dann zu sehen, wie Bitterwolf selbst, sein Schwager, Balbina natürlich und – äußerst schüchtern – Anni, die der Rottenegger wie einen zu kaufenden Gaul unter die Lupe nimmt, um den Reichen herumscharwenzeln.
So richtig zum Lachen ist dem Premierenpublikum selten zumute. Nur vereinzelt, etwa beim Auftritt von Margot Busch als Annis Mutter, beim auf Verführung zielenden Auftritt Balbinas oder dem der drei Betschwestern (Margot Busch, Mona Ehrmann, Sonja Ehrmann), die sich die Erscheinung der Madonna im Nachbarort nicht entgehen lassen wollen, wird’s heiter.
Nicht einmal Schadenfreude mag aufkommen, als die Polizei (Karlheinz Reiss) oder Marleen Hofmann als Gerichtsvollzieherin in Bitterwolfs Stube einfallen. Eher nach einem Schnaps als nach Heiterkeit ist dem Publikum nach dem hoch verdienten Schlussapplaus zumute. Publikumsreaktionen? „Knallhartes Stück!“ – „Toll gespielt!“ Stimmt beides. Dass das Theater Hollenbach das Stück überhaupt wieder aufgegriffen hat – 2005 musste die Truppe das bereits erarbeitete Stück wegen Erkrankung des Hauptdarstellers absagen –, ist Regisseur Peter Warkentin zu verdanken. Wichtig sei dieses Stück gerade in der Gegenwart, argumentierte er, und mutete sich und den Akteuren vor und hinter der Bühne über 50 Proben zu. Es hat sich gelohnt.
Weitere Aufführungen folgen am Freitag, Samstag und Sonntag, 12., 13. und 14. Januar sowie vom 19. bis 21. Januar. Die Sonntags-Aufführungen beginnen um 18 Uhr, freitags und samstags um 19.30 Uhr. Einlass jeweils anderthalb Stunden vor Spielbeginn.
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