Pabrade/Rukla/Hardheim. Er ist nicht nur der Chef des Hardheimer Panzerbataillons 363, sondern aktuell auch Kommandeur der derzeitigen eFP-Battlegroup in Litauen: Oberstleutnant Andreas Kirchner. In der Zeit seines Einsatzes im Auftrag der Nato befehligt er knapp 1600 Soldaten aus sechs Nationen. Während des FN-Besuchs in Litauen hat er sich für dieses ausführliche Interview in seinem Dienstzimmer Zeit genommen. Kirchner spricht hierbei sehr detailliert über seinen Auftrag, gibt aber auch einige persönliche Komponenten von sich preis.
Herr Oberstleutnant Kirchner, Sie sind nun seit drei Monaten hier in Litauen stationiert. Hatten Sie schon Zeit für Heimweh?
Oberstleutnant Andreas Kirchner: Nein.
Warum nicht?
Kirchner: Weil ich eine phantastische Frau habe, die meinen Beruf und meine Passion für die „Panzerei“ kennt. Beim Familientag in Hardheim vor der Abreise hierher ist sie das erste Mal mit dem Leopard gefahren. Sie ist mit einem Lächeln abgestiegen und hat wörtlich gesagt: „Andreas, jetzt weiß ich, warum seit 23 Jahren dein Herz dafür schlägt.“ Die Trennung ist für meine Familie vermutlich schlimmer als für mich, weil jeden Morgen beim Frühstück mein Stuhl leer bleibt. Mein Leben hier geht ja im Grunde ganz normal weiter.
Wir hatten es vor Ihrer Abreise von den Kommunikationsmitteln, die den Soldaten für den Kontakt in die Heimat geboten werden. Funktionieren die wie vorgesehen?
Kirchner: Es funktioniert wirklich gut - sowohl in der Kaserne als auch im Truppenlager in Pabrade.
Sie haben sich ein gutes Jahr mit ihrem Bataillon, aber auch mit Nato-Truppen anderer Länder auf diesen Einsatz vorbereitet. Welche Dinge kann man hier „in der Realität“ tatsächlich wie geübt umsetzen und welche Dinge sind dann doch anders als angenommen?
Kirchner (überlegt kurz): Ich fühle mich darin bestätigt, die Einsatzvorbereitung intensiver gemacht zu haben als das von der obersten Heeresführung vorgeben war. Das gilt vor allem für das „Battle Staff“-Training, einer einwöchigen Stabsführung in Hardheim. Hier haben wir vor allem bei den multinationalen Partnern darauf gepocht, dass hierzu auch das komplette Schlüsselpersonal bereitgestellt wird. Theoretisch mag ja alles klappen – im Wald auch bei Regen und Kälte. Aber wenn man wirklich draußen ist, das letzte Zelt aufgebaut und das letzte Kabel angeschlossen ist und man hat dann doch ein Rauschen auf dem Kopfhörer – dann fragt man sich, wie so etwas passieren kann. Es kam und kommt auf die Details an. In die haben wir viel Zeit investiert, und das zahlt sich jetzt aus. Ich habe bisher keinen wesentlichen Punkt entdeckt, der nur unzureichend oder nicht geklappt hat. Nächste Woche kommen das erste Mal unsere Nachfolger hier nach Litauen. Ich habe an die Führung dieser Truppen keine Ausbildungskernbotschaft, bei denen ich sage: Das müsst Ihr euch unbedingt noch einmal anschauen!
Worin besteht für Sie die größte Herausforderung dieser etwa 1600 Mann starken eFP-Einheit in Litauen?
Kirchner: Für mich persönlich bleibt Englisch ein limitierender Faktor. Ich stelle zwar fest, dass die Professionalität bei allen sechs Nationen gegeben ist. Wenn aber der eine oder andere Unterführer dazu gezwungen werden muss, englisch zu sprechen, weil ausländische Kameraden neben ihm stehen, dann merken sie manchmal, dass das Englisch nicht reicht, um sich für eine Operationsplanung detailliert genug ausdrücken zu können. Bei den Offizieren im Stab ist das gar kein Problem – egal bei welcher Nation. Aber beim Unterbau gibt es schon mal Probleme, wenn englische Befehle von oben nach unten an irgendeiner Stelle in die Landessprache übersetzt werden müssen. Da habe ich manchmal Bedenken, ob da nicht die eine oder andere Information verloren geht.
Werden Sie diese Problematik bei der Nachbearbeitung des Einsatzes offensiv anspreche mit dem Hinweis: Das muss besser werden!
Kirchner: Das, was ich gerade gesagt habe, ist meine persönliche Einschätzung. Die Problematik mit dem Englisch können wir als Militärs nicht beeinflussen, weil Englisch in allen Nationen eine unterschiedliche Rolle spielt und unterschiedlich unterrichtet wird. Die Soldaten kommen mit dem Englisch hier an, das sie in ihrem jeweiligen Heimatland gelernt haben. Das kann man nicht beeinflussen. Es ist wie bei anderen Dingen auch: Sie können sich vor einer Übung vieles wünschen. Wenn aber am Tag X Material und Personal nicht wie gewünscht zur Verfügung stehen, braucht man nicht zu lamentieren, sondern man muss die Planungen entsprechend anpassen.
Können Sie einen klassischen Tagesablauf von sich skizzieren oder gibt es den gar nicht?
Kirchner: Die Tage sind tatsächlich sehr verschieden, aber es gibt schon auch standardisierte Abläufe. Ich bin gegen 7.30 Uhr in meinem Dienstzimmer und mache gegen 8 Uhr zusammen mit einem ausgewählten Führungskreis meines Stabes eine Besprechung der Lage, um unmittelbar zu prüfen, ob wir den Tag wie geplant abfahren können oder nicht doch noch irgendwo Probleme aufgetreten sind. Ab dann ist mein Tag geprägt von unzähligen Tischgesprächen, bei denen mir meine Spezialisten Themen vortragen, zu denen ich einen militärischen Entschluss treffen muss. Dazwischen nehme ich mir Zeit für Dienstaufsicht und genieße es, hinaus zur Truppe zu kommen und mit den Soldaten zu sprechen. Da krieche ich mit norwegischen Aufklärern auch einmal durchs Unterholz, weil ich sehen und fühlen möchte, was die tatsächlich tun. Der Nachmittag gestaltet sich ähnlich, plus Vorbereitung auf den kommenden Tag. Mein Dienst endet zwischen 22 und 23, und so gegen 24 Uhr geht dann das Licht bei mir aus.
Wenn Sie so nahe an den Soldaten dran sind, dann spüren Sie auch gut, wie die Truppe drauf ist. Welche Gefühlswelten nehmen Sie da wahr?
Kirchner: Überwiegend höre ich, dass die Soldaten begeistert sind, so viel üben zu können. Auch der Austausch mit den internationalen Kameraden ist eine enorme Erfahrung. Klar gibt es auch einmal Sorgen und Ärger. Wenn das anders wäre, würde ich stutzig werden. Aber das ist wirklich ein sehr marginales Feedback, das ich in dieser Hinsicht bekomme.
Kann man täglich etwas lernen von den Einheiten anderer Nationen?
Kirchner: Täglich sicher nicht (lacht). Aber es ist wichtig zu sehen, wie die anderen Nationen arbeiten, auch weil es das Verständnis füreinander verstärkt.
Was wollen die anderen Nationen von den Deutschen wissen?
Kirchner: Die Faszination des Kampfpanzers Leopard 2 macht vor keiner Nation halt. Man sieht immer wieder ein Lächeln in den Gesichtern der Soldaten, wenn wir mit den Leoparden kommen. Dann wissen sie: Jetzt wird alles gut. Das ist beeindruckend zu sehen. Der Hauptteil der Übung bei „Iron Wolf“ war defensiv angelegt. Wir mussten dann aber einen Gegenangriff durchführen, um wieder Initiative zu erlangen. Das ist wichtig.
Ziel dieser Übung war es unter anderem, die Weißrussen und die Russen abzuschrecken. Von deren Seite heißt es aber, sie würden dadurch provoziert. Könnte man das angesichts der Tatsache, dass nur 15 Kilometer von der Grenze Panzer der Nato auffahren und üben nicht doch auch nachvollziehen?
Kirchner: Nein. Das ist das normale Säbelrasseln in Konflikten. Der eine, der sich vermeintlich bedroht sehen möchte, nutzt „seine Propaganda“, um einen Grund dafür zu finden proaktiv anzugreifen. Es geht nicht darum, Minsk anzugreifen, sondern darum, Nato-Territorium zu verteidigen. Wenn uns jemand angreift, werden die Nato-Truppen dieses Territorium verteidigen, aber auch mit allen Mitteln versuchen, das verloren gegangene Gebiet bis zur Grenze wieder zurückzuerobern. Das ist die Grundphilosophie – damals im Kalten Krieg und heute.
Sie nehmen auch viele öffentliche und repräsentative Termine wahr. Wie reagiert die litauische Bevölkerung auf das Dasein der internationalen Truppen?
Kirchner: Ich spüre viel Dankbarkeit; Dankbarkeit dafür, dass die Nato mit einem Gefechtsverband hier in Litauen ist. Wenn ich direkt mit Zivilisten zu tun habe, nehme ich eine große Aufmerksamkeit, aber auch ein großes Interesse wahr. Das sah man zum Beispiel an unserer statischen Waffenschau kürzlich in Jonava.
Hilft dieses Verständnis dabei, Ihren Auftrag auszuführen?
Kirchner: Na klar.
Bürgermeister Stefan Grimm hat Sie und die übrigen Hardheimer Soldaten hier in Litauen besucht. Was bedeutet das für Sie?
Kirchner: Ich finde das großartig. Die Gemeinde hat mit der Garnison viele Berührungspunkte. Aber wir wollen nicht, dass das einfach nur Standard ist. Man muss diesen Kontakt mit Leben füllen. Herr Grimm und ich machen das. Für mich war das eine Selbstverständlichkeit, ihn hierher einzuladen, und zwar zum Höhepunkt der „Iron Wolf“-Übung. Hier gab es zudem die Möglichkeit für ihn, mit den Soldaten ins Gespräch zu kommen. Davon hat er regen Gebrauch gemacht. Das finde ich super. Die Soldaten nehmen das sehr positiv wahr, wenn Sie merken, dass sich jemand wirklich für sie interessiert.
Die Hauptübung ist vorüber. Wie geht es weiter für Sie und Ihre Soldaten?
Kirchner: Im November steht ein Gefechtsschießen mit scharfer Munition an. Das hat natürlich noch einmal eine ganz andere Intensität. Hier laufen die Vorbereitungen schon – vor allem bezüglich der sicherheitsrelevanten Rahmenbedingungen.
Es wird empfindlich kalt in diesen Tagen. Verändert das auch die Stimmung in der Truppe?
Kirchner: Das kann ich nicht sagen. Kurios ist: Meine litauischen Kollegen entschuldigen sich fast schon dafür, dass hier nicht schon seit einer Woche der Schnee liegt.
Was bedeutet dieser Einsatz für Sie persönlich und für Ihre weitere militärische Laufbahn?
Kirchner: Was er für meine militärische Laufbahn bedeutet, weiß ich nicht. Das müssen und werden andere entscheiden. Für mich persönlich hat dieser Einsatz schon eine sehr besondere Note. Ich bin in Nordhessen aufgewachsen, stand dort als Kind im Frühjahr und Herbst an der Straße und habe die amerikanischen und belgischen Panzer bei den großen Nato-Übungen gesehen. Ich fand das faszinierend. Weit über 30 Jahre später bin ich als Bataillonskommandeur in Litauen. Vom kleinen Jungen Andreas bis zum Oberstleutnant Kirchner hat sich die sicherheitspolitische Lage in Europa verändert. Die Bedrohungslage ist zwar ähnlich, nur hat sich die Grenze verschoben. Wenn ich mit meinen eigenen Kindheitserinnerungen nun die Kinder hier winkend am Straßenrand sehe, ist das sehr emotional für mich.
Was machen Sie hier in Ihrer knapp bemessenen Freizeit, um sich etwas vom Dienst abzulenken?
Kirchner: Dazu möchte ich zunächst sagen, dass wir uns im engsten internationalen Führungskreis der Battlegroup immer wieder daran erinnern, auf uns aufzupassen und freie Zeit auch bewusst zu nehmen. Das finde ich sehr gut und wichtig. Wir unterstützen uns da gegenseitig. Wenn ich wirklich mal einen Samstag frei habe, interessiere ich mich als Historiker natürlich sehr für die deutsch-litauischen Beziehungen – vom Mittelalter bis heute. Ich schaue mir viele Orte an und stehe mittlerweile in Kontakt mit einer Professorin, die sich auf deutsch-litauische Beziehungen spezialisiert hat. Sie hat versprochen, mir einiges zu zeigen, und da freue ich mich schon darauf. Als Jäger war ich mit dem litauischen Staatsforst auch einmal auf der Jagd. Da lernt man eine Menge über Land und Leute. Das finde ich wichtig, weil wir hier kein Territorium verteidigen, sondern die Menschen, die hier leben.
Wie gut ist Ihr Litauisch?
Kirchner: Diese Sprache ist sehr herausfordernd. Ich kann zwei wesentliche Dinge: „Labas rytas“ – guten Morgen; die allgemeine Formulierung „labas“ für hallo und natürlich „dékoju“ – danke. Ich habe festgestellt, dass die Litauer immer lächeln, wenn man versucht, ihre Sprache zu sprechen. Ich möchte aber noch etwas dazu lernen.
Wann wäre dieser Einsatz hier ein Erfolg für Sie?
Kirchner: Wenn wir unser sehr ambitioniertes Übungsprogramm tatsächlich durchbekommen und dabei alle Ausbildungsziele erreichen. Aber ganz vorne steht, dass ich als Kommandeur alle Soldaten wieder heil nach Hause bringen muss.
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