Freudenberg. In einem bewegenden Gedenkfeier erinnerte die Stadt Freudenberg am Freitag auf dem Friedhof an die 500 000 in der Zeit des Nationalsozialismus (NS) getöteten Sinti und Roma und dabei besonders an die Familie Johann Eckstein, für die es ein Grab und eine Gedenkstätte auf dem örtlichen Friedhof gibt.
Für die Stadt Freudenberg sprach Ellen Schnellbach, ehrenamtliche Stellvertreterin des Bürgermeisters. Diese freute sich, dass Rickardo Eckstein mit seiner Familie an der Gedenkstunde teilnahm. Sie sind Nachfahren von Johann (1881 bis 1942) und Beate (1899 bis 1983) Eckstein.
Schnellbach berichtete, am 2. August 1944, vor 80 Jahren, seien im deutschen NS-Vernichtungslager Ausschwitz-Birkenau mehrere tausend Sinti und Roma von der SS ermordet worden. In Erinnerung an sie und alle Angehörigen dieser Minderheit, die im NS-besetzten Europa getötet wurden, habe das Europäische Parlament 2015 den Tag zum europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma erklärt.
„Jede in Deutschland lebende Familie der Sinti und Roma hat Angehörige in den NS-Vernichtungslagern verloren“, stellte die Rednerin fest. Dies gelte auch für die Familie Eckstein, die in den 1930er Jahren in Freudenberg wohnte, aber schon 1937 auseinandergerissen wurde. „Zeitgenossen, darunter auch mein verstorbener Vater, erinnern sich an diese Jahre in Freudenberg“, so Schnellbach.
Sogenanntes „fahrendes Volk“ habe seine Wagen in Freudenberg üblicherweise am „Dornplatz“, dem Spiel- und Turnplatz aufgestellt (am heutigen kleinen Spielplatz an der Stadtmauer). Dann seien von Sinti und Roma Reparaturarbeiten wie Messerschleifen und sonstiges Metallhandwerk angeboten worden. „Diese Arbeiten wurden gerne von den Freudenbergern angenommen“, blickte Schnellbach zurück.
Weiter sagte sie betroffen: „Dem Terror der Nazi-Diktatur waren die Sinti und Roma schutzlos ausgeliefert. Viel zu selten erfuhren sie Hilfe und Beistand in ihrer Not.“ Den Opfern der Verbrechen von Hitler-Deutschland zu gedenken, sei das Mindeste, was man tun könne. „Lasst uns dafür eintreten, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen. Die Gefahr ist nicht gebannt.“
Gleichheit aller Menschen
Es gebe in Deutschland und in vielen Ländern der Europäischen Union politische Strömungen, die rassistisches und menschenverachtendes Gedankengut verbreiten. Ellen Schnellbach: „Für uns alle gilt, sich für die Gleichheit aller Menschen und die Wahrung ihrer Würde einsetzen, so wie es im Grundgesetz verankert ist.“
Professor Dr. Joachim Maier blickte auf die Bedeutung der Erinnerung und das Leben und die Ermordung der Familie Eckstein. Gedenken meine mehr, als auf Vergangenes hinweisen. Das einmal Geschehene solle vielmehr in das Heute „mitgenommen“ werden.
Zur Gedenkstätte für Johann Eckstein und dessen Söhne Markus und Amandus erklärte er, die „nackten“ Lebens- und Todesdaten an der Grabstätte lösten Fragen aus und suchten Auskunft. „In der Familie Eckstein wurde und wird die Erinnerung bis heute lebendig gehalten.“
Maier ging ausführlich auf das Leben, das Leiden und den schrecklichen Tod der drei Familienmitglieder und vieler anderer Opfer aus den Reihen der Sinti und Roma ein. Johann Eckstein sei 1881 in einem Reisewagen geboren worden. 1922 heiratete er in Heidelberg Beate Pfaus. Zwischen 1923 und 1939 wurden sieben Kinder des Paars geboren, darunter Markus (1931) und Amandus (1933).
Der wertvollste Besitz von Johann Eckstein sei seine Geige/Violine aus der vogtländischen Geigenbau-Werkstatt David Hopf gewesen. „Sie bedeute ihm das Leben.“ Die Violinenmusik von Paul Erb, der die Gedenkfeier musikalische umrahmte, erwies Eckstein in besonderer Weise Reverenz, betonte Maier.
Staatliche Gewalt
Die Familie sei mit ihrem Reisewagen immer wieder nach Freudenberg gekommen. Bereits 1937 sei sie e durch staatliche Gewalt auseinandergerissen worden, berichtete Maier weiter. Unter anderem wurden Markus und Amandus in ein Heim in Mulfingen zwangseingewiesen. Ab November 1938 musste Johann Eckstein Zwangsarbeit leisten, ab Herbst 1941 zwangsweise in einer Natursteinfirma auf Gemarkung Freudenberg im Steinbruch Ziegelwald. Dazu sei die Restfamilie nach Freudenberg zugezogen. Am 3. Dezember 1941 habe man Johann und Beate Eckstein vom Wohnwagen weg verhaftet und in Konzentrationslager (KZ) gebracht.
Johann kam ins KZ Dachau. Er sei aber so geschwächt gewesen, dass er am 4. Mai 1942 in einem der gefürchteten „Invalidentransporte“ in die Euthanasie-Anstalt Hartheim bei Linz in Oberösterreich gebracht wurde, wo man ihm am gleichen Tag in der Gaskammer ermordete.
Am 9. Mai 1944 deportierten die Nationalsozialisten 39 Kinder – darunter Markus und Amandus – von Mulfingen nach Ausschwitz-Birkenau. Am 2. August 1944 wurde im dortigen „Zigeuner-Familienlager“ Blocksperre verhängt. In der Folge wurden auch die beiden Jungen in den Gaskammern ermordet.
„Eine große Familie von Staats wegen auseinandergerissen, durch Mord teilweise ausgelöscht“, machte Maier deutlich. Die Familie Eckstein und alle anderen Opfer seien ohne Rechte gewesen. „Ihr Leben galt nichts.“ Sie hätten nirgends einen Anwalt gehabt, auch nicht in ihrer katholischen Kirche.
Dr. Bertram Söller rezitierte das Gedicht „Herbstzeitlosen“ der jüdischen Dichterin Hilde Domin. Es spiegele deren Gefühl der Heimatlosigkeit und Verfolgung in der NS-Zeit wider und passe so auch zum Schicksal der Familie Eckstein.
Diakon Michael Baumann sprach ein Gebet. Er stellte zuvor fest, das Gehörte habe alle sehr betroffen bemacht. „Wichtig ist, dass wir aus der Geschichte lernen und alles tun, was Frieden und Gerechtigkeit nutze.“ Friede beginne bei jedem einzelnen.
In stillem Zug ging es zur Gedenkstätte, um dort Blumen niederzulegen und Kerzen aufzustellen.
Rickardo Eckstein zeigte sich vom Gedenken an seine Vorfahren tief bewegt. Er betonte, Deutschland und Freudenberg trage er im Herzen. Er rief dazu auf, jeden leben zu lassen, wie er ist, und sich gegen Rassismus einzusetzen.
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