Vor 30 Jahren scheint im oberen Bezirk die Welt unterzugehen

Hagelunwetter schlägt Schneise der Verwüstung

Ein Hagelunwetter mit Starkregen und Wind in Orkanstärke wütet am 22. Juli 1995 im oberen Bezirk. Die Schäden in Forst- und Landwirtschaft gehen in die Millionen.

Von 
Arno Boas
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Eigentlich hätte hier ein Landwirt demnächst sein Getreide geerntet – jetzt steht dort nichts mehr. Pflanzenschutzberater Hartmut Lindner begutachtet die Schäden. © Carmen Keller

Creglingen/Niederstetten. Brütende Hitze liegt am 22. Juli 1995, einem Samstag, über dem Land. Von Westen zieht am Nachmittag eine Gewitterfront auf – beängstigend schnell und mit schwerem Donnergrollen im Schlepptau. Die tiefschwarze Front ist durchzogen von einem grau-gelblichen Schein – die Front hat Hagel im Gepäck. Nichts Ungewöhnliches für den Monat Juli - eigentlich! Was sich dann aber in kürzester Zeit über dem südlichen Main-Tauber-Kreis und vor allem über dem oberen Bezirk in nicht gekannter Heftigkeit entlädt, lässt die Menschen tief schockiert zurück. Maisfelder sind wie rasiert, Getreidefelder plattgewalzt, Bäume zerhackt, Dächer abgedeckt, Hauswände haben Einschlaglöcher wie im Krieg. Das Hagelunwetter vom 22. Juli 1995 dauert nicht einmal 30 Minuten und gilt nach wie vor als schwerstes Unwetter im südlichen Landkreis – der benachbarte Altkreis Rothenburg wird allerdings teils noch härter getroffen. Dort werden an diesem Samstag Windgeschwindigkeiten von bis zu 170 km/Stunde gemessen.

Hartmut Lindner war vor 30 Jahren als Pflanzenschutzberater des Landwirtschaftsamtes Bad Mergentheim von Berufs wegen nah dran. „Es gab immer mal wieder Hagelschäden in der Region. Jedoch in dieser Stärke beziehungsweise mit dieser Korngröße und dem dadurch entstandenen Schadenspotential kann ich mich hier an kein weiteres vergleichbares Ereignis erinnern“, sagt der heutige Rentner im Rückblick auf FN-Anfrage. Große Teile des oberen Bezirks verwandeln sich in nicht mal einer halben Stunde in eine Geisterlandschaft. Dazu Regenmengen von bis zu 70 Litern pro Quadratmeter: Es ist ein Inferno, das den Menschen die apokalyptische Urgewalt des Wetters ungefiltert vor Augen führt.

Ein Wohnhaus in Lichtel, schwer gezeichnet vom Hageleinschlag. © Carmen Keller

Es ist am hellichten Tag – das Unheil bricht gegen 16 Uhr über den Oberen Bezirk herein - so dunkel geworden, dass man die Finger der ausgestreckten Hand nicht mehr erkennen kann. Ältere Einwohner berichten den FN-Reportern erschüttert, so etwas noch nie erlebt zu haben. Autofahrer müssen stoppen, weil es so dunkel wird, dass man nichts mehr sieht, außerdem verwandeln sich viele Straßen in Pisten voller Zweige, Laub, und Dreck. Wer kann, sucht Schutz vor dem Unwetter. Wie durch ein Wunder kommen im Altkreis Mergentheim Menschen nicht zu Schaden. Allerdings erleidet der bekannte Rothenburger Lyriker Wilhelm Staudacher am Tag danach beim Anblick der schweren Schäden einen Herzinfarkt, an dessen Folgen er im Alter von 67 Jahren stirbt. Noch am Samstag hatte Wilhelm Staudacher Freunden gegenüber die Absicht geäußert, eine Spendenaktion ins Leben zu rufen und schon einen Scheck ausgestellt. Die Bestürzung über Staudachers plötzlichen Tod war weit über die Stadtgrenzen hinaus groß.

Hagelkörner so groß wie Hühnereier

Hagelkörner, so groß wie Hühnereier, zerschlagen Dächer, verwüsten Gärten, vernichten in einem Streifen zwischen Rinderfeld und Reutsachsen sowie Archshofen und Rothenburg die Ernte zu 100 Prozent. Die Hagelkörner bilden teils eine bis zu 30 Zentimeter dicke Schicht auf Straßen und Feldern. Der Wald am Holzberg bei Archshofen sieht nach der Sintflut aus wie weggefegt. Die stärksten Bäume – fast ausschließlich stattliche Buchen - werden regelrecht geschält, wenn sie der Sturm nicht schon entwurzelt hat. Viele Buchen stehen nach dem Unwetter wie monströse Zahnstocher am Hang. Der Archshöfer Hermann Kaulbersch fertigt nur kurze Zeit später einen Gedenkstein zur Erinnerung an das Unwetter. Heute ist dieser Gedenkstein längst mit Moos bedeckt und so zugewuchert, dass man ihn vom Radweg Liebliches Taubertal aus nicht mehr sieht. Die Natur hat sich in den letzten 30 Jahren - mit Hilfe von Menschenhand - den Hang, der aussah wie Schlachtfeld, wieder zurückgeholt.

Das Unwetter zerstört zirka 4.000 Hektar landwirtschaftliche Fläche – Wald und Reben nicht mitgezählt. Allein der Verlust an Feldfrüchten beträgt nach Schätzungen von Experten mindestens 3,5 Millionen Mark. Die Ernte ist bis zu 100 Prozent zerstört, für die Landwirte, die Futter für ihr Vieh brauchen, ein riesiges Problem. Grünfutter, Mais: alles zerstört. Die Menschen: fassungslos. Allerdings weicht der Schock bald dem Trotz: Die Schäden sollen möglichst schnell beseitigt werden. Wobei sich herausstellt, dass nicht alle Landwirte ausreichend gegen Hagelschäden versichert sind. Kreisbauernverband, Maschinenring Östlicher Tauber-Kreis, Behörden, Politik und Privatleute setzen eine große Hilfswelle in Gang, damit die Auswirkungen auf die Landwirtschaft zumindest etwas abgefedert werden können. Vor allem der Bedarf an Mais ist groß. Von 1.400 Kubikmeter ist die Rede. Aber auch Heu und Stroh sind gefragt. Eine überregionale Futterbeschaffung wird organisiert. So werden etwa aus Igersheim oder Wertheim Stroh- und Heuballen angeboten. Die Ämter veranstalten Infoabende, um den Betroffenen Tipps zur Bewältigung der Krise zu geben.

Auch die Winzer sind betroffen. So sind etwa in Laudenbach die Reben in der Lage Schafsteige zu 80 bis 100 Prozent zerstört. Man befürchtet außerdem durch den Hagel nachhaltige Schäden an den Weinstöcken. Zum Glück bleibt die Lage Ghäuberg weitgehend verschont. Und auch die Freiwilligen Feuerwehren in den Ortschaften des Altkreises Mergentheim sind im Dauereinsatz. Viele Keller laufen voll. In Creglingen besonders viele – dort hat sich die Feuerwehr gerade zu einer Übung getroffen, als das Inferno ausbricht und aus der Übung bitterer Ernst wird. In Niederstetten rückt die Feuerwehr 17 Mal aus, in Bad Mergentheim sind die Floriansjünger 20 mal im Einsatz.

Die Schäden für die Landwirtschaft gingen in die Millionen. © Carmen Keller
Am Holzberg bei Archshofen steht dieser Gedenkstein, der an das schwere Unwetter vom 22. Juli 1995 erinnert. © Arno Boas

Das Staatliche Forstamt Schrozberg beziffert den Schaden im Wald auf rund 8.500 Festmeter – der größte Teil davon – zirka 6.000 Festmeter - im kleinparzelligen Privatwald. Besonders stark in Mitleidenschaft gezogen sind Flächen in Finsterlohr, Oberrimbach, Münster und Archshofen. Viele Bäume sind so gesplittert, dass sie kaum noch zu verwerten sind. Den entstandenen Schaden beziffert das Forstamt auf ungefähr 1,2 Millionen Mark.

Kindergarten schließt vorzeitiig

Der Gebäude-Versicherung werden in Creglingen an die 300 Gebäudeschäden gemeldet, in Niederstetten um die 150. Ziegel werden zur Mangelware, Handwerker werden auf Monate ausgebucht sein, um die Schäden zu beseitigen. Viele Ställe, Scheunen und Maschinenhallen haben Eternitdächer, die womöglich gesundheitsgefährdendes Asbest enthalten. Die Behörden raten daher bei der Entsorgung zu höchster Vorsicht. Der Kindergarten in Oberrimbach ist so schwer getroffen, dass die Kinder vorzeitig in die Ferien geschickt werden.

Eine Woche nach dem Unwetter besucht der baden-württembergische Landwirtschaftsminister Gerhard Weiser die betroffenen Gebiete, um sich ein Bild vom Ausmaß der Schäden zu machen. Er ist zuvor im ebenfalls betroffenen Hohenlohekreis unterwegs und dehnt seine Fahrt – auch auf politischen Druck aus der Region – auf den nördlichen Zipfel des Landes aus. Er besucht einen besonders stark betroffenen landwirtschaftlichen Betrieb in Schmerbach, besichtigt den kahlgeschlagenen Holzberg bei Archshofen und fährt auf einer vom Maschinenring ausgearbeiteten Route durchs Katastrophengebiet. A propos Katastrophe: Nach dem Katastrophenschutzrecht war es juristisch keine Katastrophe, weshalb es auch keine Katastrophenhilfe gibt. Der Minister verspricht aber bei der Abschlussbesprechung im Gasthaus Dörfler in Schonach, dass niemand in Existenznot geraten werde.

Nicht die erhoffte Hilfe aus Stuttgart

Wieder eine Woche später dann Nachricht aus Stuttgart: Die Unwetterhilfe-Richtlinie wird nicht, wie von den Betroffenen erhofft, vom Land aktiviert. Sie hilft in besonders schweren Fällen schlecht abgesicherten Landwirten. Wie es aus dem Landwirtschaftsamt Bad Mergentheim heißt, habe sich Minister Weiser bei den anderen Ministerien nicht durchsetzen können, die die hohen Kosten ins Feld geführt hätten. Auch eine Futtertransportkostenhilfe wird es nicht geben. Immerhin: Die Betroffenen können über vier Jahre Kredite zu vergünstigten Zinssätzen in Anspruch nehmen. Landrat Denzer hatte es schon beim Besuch des Ministers auf den Punkt gebracht: „Einen Teil des Schadens wird jeder selber tragen müssen“.

Im benachbarten Rothenburg entstanden Millionen-Schäden an Gebäuden – und die Stadt hatte sich, wie sich herausstellte, für ihre Gebäude eine Versicherung gespart. Der Stadtrat hatte nämlich einst beschlossen, auf eine Versicherung zu verzichten und im möglichen Ernstfall den Schaden selbst zu bezahlen. „Dass sich das so rächen sollte, konnte wirklich keiner ahnen“, sagte damals OB Hachtel gegenüber dem Fränkischen Anzeiger. In Rothenburg mussten zudem Verletzte beklagt werden. Im Krankenhaus wurden am Samstag und Sonntag rund 40 Patienten behandelt, die sich während des Unwetters oder bei Aufräumarbeiten verletzt hatten.

Redaktion Redakteur bei den FN

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