Buchen/Leipzig. Der Buchener Johannes Neuer ist seit vergangenem August Leiter der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) in Leipzig. Vor welchen Herausforderungen das „Gedächtnis der Gesellschaft“ steht, wie Neuer seine Erfahrungen aus New York einbringt und was ihm in seiner neuen Heimat fehlt, erklärt er im Interview mit den Fränkischen Nachrichten.
Herr Neuer, haben Sie als Direktor der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig überhaupt noch Zeit selbst Bücher zu lesen?
Johannes Neuer: Das auf jeden Fall. Ich lese gerne und viel – für die Arbeit viel digital. Privat lese ich hauptsächlich gedruckte Bücher. Die liegen auf dem Nachttisch oder in der Tasche im Zug. Das macht mir Freude und dafür habe ich auch noch Zeit.
Sie sind seit neun Monaten der Direktor der DNB in Leipzig. Wie fällt ihr Zwischenfazit aus?
Neuer: Ich fühle mich noch am Anfang. Neun Monate sind für so ein Amt eine kurze Zeit. Ich fühle mich aber schon sehr zuhause in Leipzig. Gut angekommen bin ich vor allem in diesem wunderbaren Haus. Eine der wichtigen Dinge, die auf der Agenda stehen, ist die Betreuung des Bauprojekts für den fünften Erweiterungsbau in Leipzig.
Wir sehen uns als aktives Gedächtnis der Gesellschaft."
Können Sie schon Näheres über diesen Erweiterungsbau sagen?
Neuer: Der Neubau soll an der Südost-Flanke des historischen Gebäudes entstehen. Es ist ein reines Speichergebäude – ein Magazin. In diesem Erweiterungsbau haben wir dann Platz für 213 Regalkilometer Medien. Das sind übersetzt etwa 35,5 Millionen Medienwerke.
Das heißt, die physischen Medien bleiben zukünftig nicht aus. Oder ist davon auszugehen, dass die digitalen Medien weiter überhandnehmen?
Neuer: Der Zuwachs an digitalen Medien im Jahr ist größer als an physischen Medien. Wir werden wahrscheinlich in wenigen Jahren einen Gleichstand an analogen und digitalen Medien im Gesamtbestand haben – in naher Zukunft wahrscheinlich sogar mehr digitale Medien.
Werden analoge Medien irgendwann alle digital verfügbar sein?
Neuer: Ich glaube, die Frage kann man aktuell noch nicht abschließend beantworten. Wir digitalisieren Teilbestände unserer physischen Werke auch retrospektiv. Das hat unterschiedliche Gründe. Unter anderem hat das auch mit dem Zustand der Werke zu tun. Sie werden digitalisiert, um sie auf Dauer zugänglich zu machen.
Besteht dann der Bedarf für einen physischen Speicherort noch?
Neuer: In Deutschland wird immer noch fleißig auf Papier publiziert und das wird entsprechend weiterhin gesammelt. Am Leipziger Standort sieht man gut, dass wir alle 20 bis 30 Jahre seit der Gründung 1912 ein neues Gebäude beziehungsweise einen neuen Gebäudeteil gebaut haben, um den Platzbedarf zu decken.
Können Sie bei der Planung des Neubaus Ihre Erfahrungen aus New York miteinbringen?
Neuer: Ja, nicht nur im Bau, sondern auch allgemein. Ich war an der New York Public Library tätig. Das ist ebenfalls eine der größten Bibliotheken der Welt. Dort habe ich viel Erfahrung mit öffentlichen aber auch mit wissenschaftlichen Bibliotheken gesammelt, sowohl mit digitalen Systemen als auch im Umgang mit den Nutzenden, mit Sammlungen und auch mit Bauvorhaben. Es gab dort immer etwas zu erneuern, und so habe ich auch schon bei einigen Projekten mitgewirkt. Diese Erfahrungen fließen hier mit ein.
Von New York nach Leipzig. Wie groß sind die Unterschiede und wo sehen Sie in Leipzig Vorteile?
Neuer: Ich komme aus Buchen, sozusagen vom Lande, habe in Mannheim studiert, in New York gelebt. Natürlich gibt es da Unterschiede und es sind auch andere Größenordnungen mit jeweils Vor- und Nachteilen. Kultur wird in New York großgeschrieben. Hier in Leipzig kann ich die kulturellen Angebote auch gut wahrnehmen. Es gibt viele Schätze zu entdecken, aber auch eine gute Balance zwischen Natur sowie Stadt und Kultur.
Was vermissen Sie am meisten an Buchen?
Neuer (lacht): Den Wald. Am Rande des Odenwalds ist es sehr schön mit dem Rennrad ein wenig, um herumzudüsen. Hier in Leipzig ist es relativ flach. Die Hügel haben es mir schon angetan.
Bei einem Vortrag am Burghardt-Gymnasium in Buchen haben Sie über das Konzept der Bibliothek als „Dritter Ort“ gesprochen sowie über das Ziel, dass Bibliotheken Begegnungsstätten seien und Lebenskompetenz vermitteln sollen. Ist solch ein Vortrag eine Form der Begegnung?
Neuer: Auf jeden Fall. Dass die Schülerbücherei am BGB wieder eröffnet wurde, freut mich persönlich sehr. Es ist wichtig, dass sich Menschen mit verschiedenen Medien, mit verschiedenen Meinungen und Inhalten auseinandersetzen und sie kritisch beleuchten, um ihre eigene Meinung zu bilden. Das ist ein wichtiger Muskel, den wir als Menschen in einer Demokratie entwickeln müssen.
Aber wie kann das eine Bibliothek als Ort?
Neuer: Es ist gerade in den öffentlichen Bibliotheken so, dass sie immer mehr zu Begegnungsorten werden, da spricht man dann auch von einem „Dritten Ort“ neben der Wohnung und der Arbeitsstätte. Dort ist nicht nur das Lesen ein wichtiger Bestandteil, sondern auch die Gemeinschaft der Menschen vor Ort – bei Vorträgen, gemeinsamem Basteln und Kreieren, Zeitung lesen oder im Lese-Café. Das ist soweit ich weiß auch in Hardheim seit einer Umgestaltung der Fall. Bei wissenschaftlichen Bibliotheken, wie der DNB, besteht beispielsweise die Möglichkeit, Räume zu buchen, um im Team in Ruhe mit unseren Medien zu arbeiten.
An diesem Punkt stehen Bibliotheken in Konkurrenz zu Smartphones. Durch Handys hat jeder Mensch Wissen sofort griffbereit in der Hosentasche. Hier gilt es allerdings die Informationen richtig einzuordnen. Wie kann eine Bibliothek dabei helfen?
Neuer: Wir haben viele Informationen. Es gilt zu beurteilen, ob diese seriös sind und ob sie sich durch Fakten aus anderen Quellen bestätigen lassen. Das ist etwas, was Bibliotheken schon sehr lange gut können. Und gerade Bibliothekare und Bibliothekarinnen können an dieser Stelle interessierten Menschen viel mitgeben. Das passiert viel in öffentlichen Bibliotheken, was wissenschaftliche aber auch leisten können. Das besondere an der DNB ist, dass wir alles sammeln, ohne Wertung. Damit bieten wir Interessierten auch an, alles zu entdecken und zu erforschen.
Wie sieht Ihr Arbeitsalltag in der DNB aus?
Neuer (lacht): Ich lese nicht den ganzen Tag Bücher so wie die meisten Bibliothekare übrigens auch nicht. Das ist etwas, das in der Allgemeinheit so ein bisschen in den Köpfen sitzt. Ich bin Hausleitung und bin für die Vorgänge, die in diesem Haus stattfinden, verantwortlich. Dazu gehört die Gebäudetechnik, Bauvorhaben, Renovierungsarbeiten, Öffentlichkeitsarbeit, Veranstaltungen, offizielle Funktionen, die ich im Gebäude oder in der Stadt wahrnehme. So ist es ein vielseitiger Tag.
Sie verbringen also wenig Zeit zwischen den vielen Regalkilometern?
Neuer: Die wenigsten Mitarbeitenden verbringen dort tatsächlich Zeit. Nur zum Rausholen und Einstellen der Medien. Diese sind da meistens unter sich.
Fasziniert es Sie, dass an einem Ort so viel Wissen gesammelt wird?
Neuer: Ja, das fasziniert mich und besonders wenn ich über das, was wir haben, neue Dinge lernen kann. Wir sehen uns als aktives Gedächtnis der Gesellschaft und in unseren Sammlungen kann man gesellschaftliche Strömungen erkennen, Veränderungen in unserer Sprache, wie wir Reisen, Kochen und Sporttreiben. Alle diese Dinge und mehr kann man mit unserer Sammlung erforschen.
Das besondere an der Deutschen Nationalbibliothek ist, dass wir alles sammeln, ohne Wertung."
Gedächtnis der Gesellschaft und damit auch der deutschen Kultur – wie wirkt sich Leipzig beziehungsweise die Kulturstadt auf den Standort der DNB aus?
Neuer: Es ist ja kein Zufall, dass die DNB in Leipzig sitzt. Leipzig ist eine Buchstadt. Die andere große Buchstadt ist Frankfurt. Zur Buchmesse nach Leipzig reisen jedes Jahr mehrere hundert Tausend Menschen, um sich über die neusten Erscheinungen zu informieren. Die Gründung wurde durch die Stadt Leipzig, das Königreich Sachsen und den Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig herbeigeführt. Als der Sammelauftrag später in die Gesetzgebung eingeflossen ist, kam es zur sogenannten Pflichtabgabe von zwei Exemplaren. Ohne die Buchstadt Leipzig wäre es gar nicht so weit gekommen.
Kann man sich das dann so vorstellen, dass die Bücher per Post bei der DNB ankommen und einsortiert werden?
Neuer: Ja, die physischen Bücher kommen auf dem Postweg ins Haus. Wenn sie da sind, werden sie formal erschlossen. Wichtig ist die Größe, um sie möglichst effizient aufstellen zu können. Danach kommt die Inhaltserschließung. Das erfolgt durch intellektuelle Arbeit. Da sitzen also Menschen dran. Bei digitalen Produkten ist es anders. Die werden digital erschlossen, mit einer Erschließungsmaschine. Das ist eine Künstliche Intelligenz, die die Werke verarbeitet und beschreibt.
Neuer und die DNB
- Johannes Neuer ist aus Buchen und studierte in Mannheim. Er war von 2009 bis 2018 an der New York Public Library tätig.
- Er ist der Direktor der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) in Leipzig seit dem 1. August 2023.
- Per Gesetz wird alles gesammelt und archiviert, in Schrift und Ton, was in oder über Deutschland oder in deutscher Sprache geschrieben ist.
- Die Medien stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung.
- Die gesamte Sammlungsgröße liegt bei etwa 50 Millionen Medien. Damit zählt die DNB zu den zehn größten Bibliotheken der Welt. Darunter sind rund 35 Millionen physische Medien und etwa 15 Millionen digitale Medien.
- Sammelpflichtige Medienwerke sind beispielsweise Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Karten, Musikalien, Normen, Musiktonträger oder Hörbücher. Seit 2006 werden auch Netzpublikationen wie E-Books, E-Journals, E-Paper, digitale Hörbücher, Musikveröffentlichungen oder Websites archiviert.
- Aufgrund der Pflichtabgabe müssen Verlage, die Medien produzieren mit mindestens vier Seiten und 25 Exemplaren, zwei Exemplare an die DNB abgeben. Ein Exemplar wird am Standort Leipzig und das andere in Frankfurt am Main aufbewahrt. sc
Bei Bibliotheken hat man staubige Bücher vor Augen. Beim Blick in die Zukunft: Wie schätzen Sie die Zukunft der Bibliothek allgemein oder auch speziell die der DNB ein? Wird sie nur noch ein „Dritter Ort“? In welche Richtung kann es gehen?
Neuer: Unsere Sammlung wird immer digitaler. Damit müssen wir in der DNB die digitalen Fähigkeiten ausbauen, mit Mensch und Maschine. Es ist so, dass auch digitale Medien aus urheberrechtlichen Gründen nur hier vor Ort genutzt werden können. Dadurch bleibt der Ort von großer Bedeutung und das wird auch, glaube ich, in Zukunft so sein. Wir haben viele Nutzende. Gerade in Zeiten in denen Studierende, Schülerinnen und Schüler Abschlussarbeiten schreiben, wird die Ruhe in unseren Lesesälen genutzt, um konzentriert arbeiten zu können. Da ist an beiden Standorten viel los. Ich sehe Bibliotheken schon immer als einen Arbeitsraum an. Sie orientieren sich auch immer stärker an den Bedürfnissen ihrer Nutzenden und das hat Auswirkungen auf die räumliche Gestaltung.
Was ist Ihr Stempel, den man in zwei, drei Jahren erkennen soll?
Neuer: Ich wünsche mir, dass mehr Menschen etwas über die DNB wissen. Das sie wissen, dass es uns gibt, was wir machen und was sie hier bekommen können. Das geht besonders an junge Menschen, Studierende aber auch Forschende. Das möchte ich befördern, auch in der Stadt Leipzig. Denn darauf können wir hier stolz sein.
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