Bad Mergentheim. „Ich bin jetzt noch entschlossener, die Ukraine und ihre Bürger zu unterstützen“, sagt Oberbürgermeister Udo Glatthaar im FN-Interview. „Die Menschen dort wollen sich Putin und den russischen Truppen nicht ergeben, sie wollen unsere Hilfe haben. Und auch Bad Mergentheim kann helfen: Erst einmal mit einzelnen Projekten und später vielleicht sogar mit einer Städtepartnerschaft.“
Der Bad Mergentheimer Rathaus-Chef hatte die Einladung zu einem Kommunalen Partnerschaftsforum in Lwiw (deutsch: Lemberg) im Westen der Ukraine, rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, erhalten und nahm daran vor kurzem auch teil. Es wurde organisiert und durchgeführt von der Vereinigung „Cities 4 Cities“ (Städte für Städte) unter dem Titel „United 4 Ukraine“ (vereint für die Ukraine).
Herr Oberbürgermeister Glatthaar, was war das für eine Reise und wie kam es überhaupt dazu?
Udo Glatthaar: Ich hatte eine Einladung der europäischen Initiative „Cities 4 Cities“ erhalten, die ich schon von Veranstaltungen in Deutschland kannte. Dabei geht es um den Austausch zwischen Städten über Ländergrenzen hinweg.
Nun war es erneut das gemeinsame Ziel, Ansprechpartner für ukrainische Städte und deren Anliegen zusammen zu bringen – diesmal allerdings vor Ort, in Lemberg.
Durch zahlreiche Binnen-Flüchtlinge hat die Stadt in der West-Ukraine inzwischen fast eine Million Einwohner. In der Stadtmitte, genauer gesagt im Kongresszentrum am Rathaus, trafen sich jetzt rund 300 Teilnehmer beim Kommunalen Partnerschaftsforum. Es ging um den Austausch und das Knüpfen von Netzwerken. Dabei waren auch etwa 50 Oberbürgermeister und Bürgermeister aus ganz Europa, zum Beispiel der OB von Vilnius, der Hauptstadt Litauens, der OB von Aarhus in Dänemark, französische und andere Bürgermeister – und eben deutsche. Weiter waren Vertreter von Non-Profit- und staatlichen Organisationen sowie mindestens 100 ukrainische Bürgermeister vor Ort.
Zum Hintergrund sollte man noch wissen, dass viele neue Städtepartnerschaften als Zeichen der Solidarität und konkrete Unterstützung seit Beginn des russischen Angriffskrieges hinzugekommen sind. Gab es bis 2022 rund 90 deutsche Städtepartnerschaften mit ukrainischen Kommunen, so sind es inzwischen schon über 200.
Haben Sie lange gezögert bei der Entscheidung, ob Sie die nicht ganz ungefährliche Reise in ein Land im Krieg antreten werden?
Glatthaar: Nein. Ich hatte keine größeren Bedenken, obwohl wir alle wissen, dass sich die Ukraine landesweit gegen den russischen Angriffskrieg verteidigt. Ich war überzeugt, dass ich sicher nach Lemberg und wieder zurück komme. Die großen Kampfgebiete im Osten und Süden des Landes waren nie ein Thema.
Ich bin als Oberbürgermeister der Stadt Bad Mergentheim hingereist, hatte zuvor den Gemeinderat informiert und die Rückendeckung, dass ich hier in Lemberg sondieren kann – und wir schauen dann im neuen Jahr, was daraus wachsen könnte.
Natürlich haben die meisten ukrainischen Städte den Wunsch nach Städtepartnerschaften, aber soweit sind wir jetzt noch nicht. Ich werbe zunächst für so genannte Projektpartnerschaften, so wie es auch andere machen.
Welche Städte haben Interesse mit Bad Mergentheim zusammen zu arbeiten? Was können das für Projekte sein?
Glatthaar: Ich werde unserem Gemeinderat Anfang 2024 eine Vorlage auf den Tisch legen, die konkrete Projekte beinhaltet.
Vertreter zweier Kommunen waren ja schon in diesem Jahr bei uns in Deutschland zu Gast: aus Velyka Dymerka nahe Kiew und aus Schabo, der Stadt in der Weinanbauregion im Süden von Odessa, unweit der Grenze zu Rumänien. Die einen schauen nach einer Bildungspartnerschaft, da geht es unter anderem um die Ausbildung von Deutsch-Lehrern und um ukrainische Schüler, die eventuell am Studienkolleg der Dualen Hochschule Baden-Württemberg teilnehmen könnten, als Vorbereitung für ein späteres DHBW-Studium in Deutschland. Und die anderen sind touristisch interessiert, die wollen mit uns den Austausch über Weinbau, Wirtschaftsförderung und Gesundheit.
Zudem sind da noch zwei weitere Städte aus dem Großraum der Hauptstadt Kiew, eine liegt nördlich, nahe der Grenze zu Belarus, und eine andere ebenfalls in der Region, die sich über Bildung, Gesundheitsthemen und medizinische Versorgung austauschen möchte.
Wie lief die Reise insgesamt ab?
Glatthaar: Ich bin am Samstag gestartet und war am Sonntagabend schon in Lemberg. Der Kongress dauerte zwei Tage, Montag und Dienstag, und am Mittwoch war ich schon wieder in Bad Mergentheim.
Die Reise war erwartungsgemäß umständlich: Die Ukraine befindet sich im Krieg und gehört noch nicht zur EU. Ich bin also mit dem Zug nach München gefahren und von dort am Sonntagfrüh nach Rzeszow in Ost-Polen geflogen und etwa eineinhalb Fahrstunden von der ukrainischen Grenze entfernt gelandet. Dort wurde ich von Mitarbeitern des Partnerschaftsforums zusammen mit anderen Teilnehmern in Empfang genommen. Und in Kleinbussen und Pkws ging es weiter zur Grenze. Dort hieß es aussteigen und zu Fuß mit dem Gepäck in einem großen Fußgängerstrom die Grenzstation passieren. Alles dauert lange, es wird intensiv kontrolliert und überall sind Gitter und Stacheldraht. Man merkt, dass man an der EU-Außengrenze steht und vor einem Land im Ausnahmezustand.
Bei der Rückreise hatte ich mehr Glück. Hier fuhren vier Fahrzeuge im Konvoi mit Forumsteilnehmern zurück nach Polen und an der Grenze wurden wir zwar nach längerer Wartezeit aber ohne auszusteigen schließlich auf eine extra Spur geleitet, kontrolliert und durchgelassen.
Haben Sie viel Leid und viele Flüchtlinge gesehen?
Glatthaar: Man sieht an der Grenze unzählige Menschen, die mit Koffern, Gepäck sowie Rucksäcken unterwegs sind – aber in beide Richtungen. Ich weiß nicht, ob es Flüchtlinge, Arbeiter oder andere Leute waren. Es gibt Holzhütten und einen großen Warenumschlag. Es sind jede Menge Autos, Busse, Lastwagen und Menschen zu sehen.
Wie wirkte die Stimmung der Ukrainer auf Sie?
Glatthaar: Die Stimmung ist aufgekratzt, der Ernst der Lage ist allen klar. Ich habe aber viele zuversichtliche Töne wahrgenommen. Die Ukrainer sind überzeugt, dass sie gewinnen. Allerdings fehlt es an neuen Kräften für die Armee. Die Stimmung ist auch trotzig, denn sie sehen, dass alle größeren Städte, auch Lemberg, beschossen werden und trotzdem versuchen sie ihren Alltag zu meistern und weiter zu leben.
Erlebten Sie Angriffe mit?
Glatthaar: Nein, Angriffe nicht, aber drei Luftalarme. Mitten in der Rede einer Vertreterin des ukrainischen Wirtschaftsministeriums mussten wir zum Beispiel alle aufstehen, den Konferenzsaal verlassen und in den Schutzkeller gehen.
Wurden Sie nervös? Wie lief das ab? Wie ging es weiter?
Glatthaar: Wir haben uns von der Ruhe und Besonnenheit der Ukrainer anstecken lassen. Alle ausländischen Gäste. Es war nicht hektisch. Die Einheimischen erleben das ja leider regelmäßig. Wir sind also vom großen Saal einige Stockwerke hinab in den Keller gegangen und plötzlich sitzen wir eben nicht mehr in einem Saal mit Tageslicht, sondern in mehreren kleinen Räumen eng bei einander. Die Veranstaltung geht dort weiter, denn die haben sich da für Notfälle eingerichtet und die Rede wird über Bildschirme in die anderen Räume übertragen. So finden übrigens auch Schulunterricht und Vorlesungen ihre Fortsetzung, ebenso wird vieles online durchgeführt.
Was haben Sie an Kriegsschäden im Land gesehen?
Glatthaar: Ich habe wenige kaputte Gebäude und zahlreiche sehr schadhafte Straßen gesehen, aber auch Bauarbeiten für neue Straßen. Da wir in der Dunkelheit nach Lemberg reingefahren und am frühen Mittwochmorgen wieder raus sind, habe ich aus dem Auto heraus aber nur die nächste Umgehung sehen können.
Wie fällt Ihre Reise-Bilanz aus?
Glatthaar: Lemberg ist noch eine der sichersten Städte in der Ukraine. Die Luftalarm-Sirenen gehören dennoch zum Alltag. Die Schicksale der Menschen machen mich betroffen. Ich habe eine Rentnerin kennengelernt, die schon lange in Deutschland lebte und bedingt durch den Krieg zurück in ihre Heimat ist, um dort zu helfen. Das bewegt mich. Die Ukrainer halten zusammen, brauchen aber auch unsere Hilfe!
Sehr dankbar waren sie für unsere moralische Unterstützung: für unseren Besuch. Auch dieses Zeichen, hierher zu kommen, hilft ihnen.
Was muss Ihrer Ansicht nach Deutschland tun? Was kann Bad Mergentheim tun?
Glatthaar: Deutschland und Europa müssen der Ukraine schneller und ausreichend Waffen und Munition liefern, damit sich das Land verteidigen kann. Wir müssen ihnen zudem helfen, die Lufthoheit zurückzugewinnen und ihnen moderne Luftabwehrsysteme wie zum Beispiel „Taurus“ geben.
Bad Mergentheim kann auch helfen. Auf vielfältige Weise. Zum Beispiel durch ein kleines Feriencamp für 20 bis 30 Schüler aus Schabo, die sich hier bei uns erholen können. Oder durch den Ausbau einer Bildungspartnerschaft mit der Dualen Hochschule. Eine Kommune bei Kiew ist wie schon erwähnt daran stark interessiert. Schabo würde sich über ausgemusterte Feuerwehrfahrzeuge, Lastwagen, Bagger, Traktoren, Wasserpumpen, Generatoren oder anderes technisches Gerät freuen. All das könnte ich mir gut vorstellen, trotz unseres finanziell angespannten Haushalts.
Und dann geht es um den Austausch insgesamt: zum Beispiel, wie sind unsere Rettungsorganisationen aufgestellt, oder die Verwaltungsarbeit im Föderalismus, Bildungsarbeit, demokratische Strukturen, etc.
Ich wünsche mir konkrete Projekte und werde dem Gemeinderat dazu Vorschläge machen. Man-Power aus dem Rathaus und gerne auch ehrenamtliche Unterstützung werden für weitere Schritte benötigt. Hier hoffe ich auf offene Ohren und interessierte Mitstreiter. Und mittelfristig habe ich die Hoffnung, dass am Ende der Projektphase und des Kennenlernens eine Städtepartnerschaft stehen kann.
Werden Sie Ihre gemachten Erfahrungen und die Gesprächsergebnisse aus der Ukraine auch politisch weitertragen?
Glatthaar: Auf jeden Fall. Ich werde mit unseren Landes- und Bundestagsabgeordneten reden und Ihnen klar sagen: Wir müssen noch entschlossener sein! Putin will die Zeit weit zurückdrehen, er will Zar sein, aber mit der Einflusszone der früheren UdSSR. Wir im Westen haben das nicht ernst genommen.
Ich bin überzeugt, dass wir unsere freiheitlich-demokratischen Werte und Ordnungen in Europa aktuell in der Ukraine verteidigen lassen und deshalb dort nach Kräften helfen müssen.
Die Menschen dort sterben – und wir sind immer noch zu zögerlich und dadurch zieht sich der Krieg immer mehr in die Länge.
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