Bad Mergentheim. Die Brüder Jörg und Dieter Müller hatten schon 1974 mit ihrem ersten Stern begonnen, in den „Schweizer Stuben“ in Bettingen Michelin-Geschichte zu schreiben – 1977 folgte der zweite. Zu dieser Zeit war der Gourmethimmel über dem südlichen Main-Tauber-Kreis noch dunkel. Erst 1993 leuchtete auch dort ein Michelin-Stern. Geholt hat ihn Hubert Retzbach mit seinem Team der „Zirbelstube“ im Hotel „Victoria“ in Bad Mergentheim. Der Spitzenkoch kann sich noch gut an das Ereignis erinnern. Pascal Boesch, damaliger Stellvertreter von Otto Geisel und heutiger Mit-Inhaber von „Victoria-Weine“, hatte ihn angerufen. Er solle noch kurz da bleiben, es habe sich etwas ereignet, das seine Laufbahn verändern werde. Und das war dann zur Freude des ganzen Teams der erste Michelin-Stern, „der damals wirklich völlig überraschend“ kam.
Bange Stunden
Hubert Retzbach
Nach Ausbildung im Kurhaus zog es den gebürtigen Wachbacher sechs Jahre lang in Brenners Park-Hotel nach Baden-Baden. Dort traf er zufällig auf Karl Geisel, der ihn mit der Meisterprüfung in der Tasche zurück an die Tauber holte.
Hier wurde Hubert Retzbach im „Victoria“ zwar schnell Küchenchef, doch lag ihm der Kurbetrieb nicht wirklich. Erst als Otto Geisel das Hotel übernommen hatte und langsam die Umstellung auf À la carte- und Hotelbetrieb erfolgte, entschied sich Hubert Retzbach dazu, in Bad Mergentheim zu bleiben.
Zählt man die Ausbildung dazu, stand Hubert Retzbach rund 50 Jahre am Herd.
Beruf und Hobby verbinden konnte der Maître de Cuisine in der Fußball-Nationalmannschaft der Spitzenköche. Als Libero war er bei der ersten Weltmeisterschaft in Stuttgart im Team, nachdem er schon bei der Europameisterschaft mit seiner Mannschaft den vierten Platz belegt hatte. Mit 50 Jahren hat Retzbach die Kickschuhe im Köcheteam schließlich an den Nagel gehängt.
Das war nicht der einzige Kontakt zum Fußball – in seinem Heimatdorf Wachbach hat er selbst Fußball gespielt und war sechs Jahre lang als Jugendbetreuer beim SV aktiv.
In den Folgejahren war man zwar alljährlich gespannt, wie die Kritiker entscheiden werden, doch wurde die Vergabe des Sterns so ein bisschen zur Routine. Bis 2003, da wurde es noch einmal so richtig spannend. Inhaber Otto Geisel war mit neuen Ideen aus dem Urlaub gekommen. Gourmetküche ohne die „exklusiven“ Produkte aus aller Welt sollte es sein, Geisel wollte der Sterneküche wieder mehr Bodenhaftung verleihen, Köstlichkeiten aus der Region sollten zum Einsatz kommen. „Das war keine leichte Aufgabe“, erinnert sich Hubert Retzbach, der damit zum Pionier einer regional verwurzelten Genießerküche werden sollte, im FN-Gespräch. Partner vor Ort mussten gesucht werden, die beständig die geforderte Qualität liefern konnten. Die Produzenten fanden sich nach und nach – und die Region auf dem Teller genießen zu können, kam bei den Gästen gut an. Unklar war jedoch, wie die Michelin-Tester reagieren würden. Kurz vor Veröffentlichung des Gourmetführers durchlebte man bange Stunden im „Victoria“. Doch der Stern blieb erhalten und sollte noch zehn weitere Jahre, bis zu Retzbachs Wechsel nach Heimhausen, das Team der „Zirbelstube“ auszeichnen.
Nach fast 32 Jahren – davon 20 Jahre in Folge mit einem Stern dekoriert – verließ Küchenchef Hubert Retzbach auf eigenen Wunsch zum Ende des Jahres 2012 das Hotel, das zu diesem Zeitpunkt bereits unter dem Namen „Palais Victoria“ firmierte. Noch im November als die deutsche Ausgabe des „Michelin“ für 2013 erschienen war, hatten er und das Team der „Zirbelstube“ ihren Stern einmal mehr erfolgreich verteidigt. Schon ab Mitte Januar 2013 war Retzbach in der „Jagstmühle“ in Heimhausen aktiv. Gemeinsam mit Markus Reinauer prägt er seitdem die Küche des Hauses – Reinauer als Küchenchef, er selbst als übergeordneter Betriebsleiter.
Endlich mehr Zeit
Die letzten Jahre in der „Jagstmühle“ hat Retzbach ohne das Ziel „Stern“ kochen dürfen und hat mit seiner regional gehobenen Küche die Gäste verwöhnt. „Das war natürlich etwas einfacher, weil der Druck gefehlt hat. Aber letztendlich kocht man nicht für den Stern, sondern für den Gast“, erklärte er gegenüber den FN. „Es war eine schöne Zeit, aber jetzt freue ich mich schon sehr auf mehr Freizeit“, resümiert Retzbach. Glück für den Spitzenkoch, dass er durch Corona schon einen Vorgeschmack darauf bekommen hat, wie es ist, mehr Zeit für sich zu haben. „Jetzt werde ich mich verstärkt um meine Familie kümmern, die ja bisher immer zu kurz gekommen ist “, blickt Retzbach in die Zukunft. Endlich werde es gemeinsame Wochenenden mit seiner Frau geben, denn die waren bisher die absolute Ausnahme. Ein kleines Grundstück, an dem immer etwas zu tun ist, und die Enkelkinder sorgen dafür, dass keine Langeweile aufkommt. Und sollte die sich wider Erwarten doch einmal einstellen, könne er ja noch ein bisschen was arbeiten und in Heimhausen aushelfen.
Steffen Mezger wird Nachfolger
Um die Zukunft der „Jagstmühle“ macht sich der 65-Jährige keine Sorgen. Steffen Mezger, ein absoluter Profi und Spitzenkoch, tritt Retzbachs Nachfolge an. Mezger ist in der Region kein Unbekannter, war schon im Alten Amtshaus in Ailringen und im Wald- und Schlosshotel Friedrichsruhe tätig. Nach einigen anderen Stationen war der Ausnahmekoch zuletzt von Mai 2014 bis September 2020 Küchenchef in der Residenz Heinz Winkler – mit zwei Sternen ausgezeichnet – und ab Herbst 2020 im Wellness Natur Resort Gut Edermann in Teisendorf.
Am 6. Oktober fängt Steffen Metzger in Heimhausen an. Nach kurzer Übergabezeit geht Hubert Retzbach nach 50 Jahren am Herd spätestens Ende Oktober in den Ruhestand, „wahrscheinlich aber schon ein bisschen früher“.
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