Wie ergeht es einem Kind, das an einem fremden und feindseligen Ort ins Leben finden muss? Davon handelt der einfühlsame Roman von Ulrich Rüdenauer.
Bad Mergentheim. Der in Bad Mergentheim geborene Ulrich Rüdenauer hat einen Roman mit magischer Sogkraft geschrieben, der aufgrund seiner Geheimnisse, die nur schrittweise gelüftet werden, eine spannende Lektüre bietet.
Auf 192 Seiten wird eine dörfliche Gemeinschaft entfaltet, die kirchlich, aber nicht christlich geprägt ist. Die Rollen sind klar verteilt. Der Pfarrer, der seine Schäfchen „um den Verstand bringt“, der Lehrer als „Prügelmeister“ und der Onkel als autoritäres Familienoberhaupt.
Im Zentrum dieser starren Hierarchie der neunjährige Richard, der ohne Vater, ohne Mutter als unerwünschte Randfigur bei der Familie seines Onkels aufwächst und dessen Herkunft und Schicksal mit dem Zwangsarbeiter-Elend der Nazis verstrickt ist.
Einzig die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, bei der Deutschland als Sieger hervorgeht, bringt für Augenblicke Leben, Begeisterung und eine gewisse Unbeschwertheit ins Dorf.
Richard, der sich an die ihm fremde Familie angekettet und nirgends zuhause fühlt, außer in der Natur, beim Lesen, beim Träumen und in der Geborgenheit seines Großvaters (gibt es ihn wirklich?), trifft am Ende des Romans, als er in die Stadt geflohen ist, auf einen Spieler der deutschen Fußball-Weltmeister-Mannschaft. Dieser Charly, der auch ohne Eltern in einem Heim aufgewachsen ist, hat für den kleinen Richard tröstende Worte, die ihm vielleicht helfen werden, „das Gute zu erkennen und zu ergreifen“.
Mit großer Einfühlungskraft und aufwühlend schildert Rüdenauer eine Kindheit, die in der Welt der Erwachsenen ins „Abseits“ gedrängt wird. Über sein Romandebüt sprachen wir mit dem Autor.
Warum haben Sie erst mit 52 Jahren Ihren ersten Roman geschrieben?
Ulrich Rüdenauer: Eine naheliegende Frage, auf die es gleich mehrere Antworten gibt: Eine wäre, dass ich womöglich viele Jahre zu sehr im journalistischen Schreiben gefangen war und schlicht die Zeit und der Abstand fehlten, an einem längeren Text zu arbeiten. Eine andere Antwort: Ich habe immer nebenbei kürzere Prosastücke verfasst, die teils veröffentlicht wurden. Und ich habe mehrmals Anlauf zu einem Roman genommen. Vielleicht musste ich ein wenig älter und auch unbekümmerter werden, um einen größeren Bogen schlagen und erzählen zu können.
Seit vielen Jahren besprechen Sie Romane in Zeitungsfeuilletons. Fällt es Ihnen als Buchkritiker leichter, Literatur zu verfassen, oder ist es eher hinderlich?
Rüdenauer: Es ist für mich eher hinderlich. Feuilletonistisches Schreiben hat zwar Berührungspunkte mit dem literarischen Schreiben; aber die journalistische Arbeit mit ihren formalen Vorgaben, Deadlines, Zielsetzungen steht dem interesselosen, zweckfreien Schreiben irgendwie im Weg. Früher konnte ich zuweilen in meinem alltäglichen Trott „für mich“ an kleinen Prosatexten arbeiten – nachts oder zwischendurch. Aber inzwischen muss ich beides trennen. Vielleicht doch eine Altersfrage. Das nun erschienene Buch ist zum größten Teil in zwei Monaten – im Dezember 2021 und im Dezember 2023 – entstanden, die ich mir sehr bewusst frei von Auftragsarbeiten gehalten hatte.
Haben Sie literarische Vorbilder?
Rüdenauer: Ich habe viele Autorinnen und Autoren, die ich schätze, und einige wenige, die ich liebe und auf die ich immer wieder zurückgreife – gerade auch in krisenhaften Momenten. Von Peter Handke, Wilhelm Genazino, Georges-Arthur Goldschmidt über Italo Svevo, Robert Walser oder Patrick Modiano bis hin zu Georges Simenon und Patricia Highsmith, um nur ganz wenige zu nennen. Aber literarische Vorbilder in einem sehr konkreten Sinne könnte ich nicht nennen. Vielleicht sind es eher gute Geister, die in meiner inneren Bibliothek herumspuken und mir dann manchmal beim Schreiben über die Schulter schauen.
Von manchen Romanen wird gesagt, sie seien überflüssig, weil sie inhaltlich und formal nichts Neues bieten. Wenn man das Ihnen vorwerfen würde, was würden Sie sagen?
Rüdenauer: Da mir, zumindest bisher, noch niemand diesen Vorwurf gemacht hat, bin ich fein raus – ich muss dazu eigentlich gar nichts sagen. Es sei denn, in Ihrer Frage steckt der Hinweis, mein Buch habe inhaltlich und formal nichts Neues zu bieten – dann täte es mir leid, dass Sie es haben lesen müssen (lacht).
Aber auf die grundsätzliche Frage nach dem ästhetisch und inhaltlich Neuen, würde ich wohl antworten, dass es in der Literatur nicht so häufig zu ganz radikalen Umwälzungen kommt und gekommen ist. Wichtiger ist es, für eine spezifische Geschichte eine eigene oder zumindest angemessene Stimme zu entwickeln. Im besten Fall entsteht so ein Text, der Leserinnen und Leser zu berühren vermag und, ja, ihnen vielleicht sogar das Gefühl gibt, etwas so noch nicht Gelesenes gelesen zu haben.
Der neunjährige Richard, der im Mittelpunkt des Romans steht, wurde 1945 geboren und gehört damit zu Ihrer Vater-Generation. Spielen da biografische Aspekte eine Rolle?
Rüdenauer: Ja und nein. Es gibt Geschichten, die mir von Menschen aus dieser Generation erzählt wurden und die – wenn auch stark verwandelt – ins Buch gefunden haben. Ganz konkret ist es so, dass mein Vater als kleines Kind eine gewisse Zeit bei Verwandten im Odenwald zubringen musste, auf einem Bauernhof. Ich weiß nicht allzu viel darüber, aber es muss für ihn eine traumatische Erfahrung gewesen sein.
Später, als er wieder ins Taubertal kam, hatte er es dann besser getroffen. Möglicherweise steckt aber in dieser kurzen Episode, als er fern von zu Hause sein musste, ein Keim des Romans: Wie ergeht es einem Kind, das an einem fremden und feindseligen Ort ins Leben finden muss? Allerdings hat es sich damit auch schon mit dem Biografischen. Der Richard in meinem Buch hat ziemlich schnell ein vollkommenes Eigenleben entwickelt.
Der Roman-Antiheld Richard ist von unserer heutigen Zeit 70 Jahre entfernt und kennt weder Internet noch Smartphone. Er ist ein genauer Beobachter, Grübler und Träumer, eine Gegenfigur zum heutigen Getriebe?
Rüdenauer: Irgendwie schon. Ich bin – mein Alter haben Sie schon erwähnt – in einer Zwischenzeit aufgewachsen: In einer massenmedial zwar ziemlich erschlossenen, aber eben doch vordigitalen Welt. Es gab in meiner 1970er-Jahre-Kindheit viele Berührungspunkte zu diesen 50er und 60er Jahren, zur unmittelbaren Nachkriegszeit, die gerade auf dem Land vielleicht noch besser konserviert war.
In der Grundschule wurde man von Lehrern unterrichtet, die an der Ostfront waren. Das bäuerliche und katholische Milieu war mir sehr vertraut, die dunklen Sonntagsanzüge, der Geruch von Zigarren, das Miefige, die Enge, das konservative Klima, manchmal auch die Sprachlosigkeit. Von daher konnte ich mich durchaus in diesen Richard hineinversetzen, in ein Kind, das sensibel genug ist, seine Umwelt intensiv wahrzunehmen, auch wenn es einiges nicht versteht oder sich noch nicht zusammenreimen kann.
Die katholische Kirche kommt im Roman nicht gut weg. Auch der Lehrer nicht. Wie überhaupt die Erwachsenen meist beschränkt und ohne Mitgefühl auftreten. War es Ihre Absicht, einen gesellschaftskritischen Roman der 1950er Jahre zu schreiben?
Rüdenauer: Nein, keinesfalls. Mir schien es nur interessant, wie in diesen 50er Jahren in einem provinziellen Milieu (und ja nicht nur dort), das Schweigen über die Nazi-Zeit sehr beredt war, dass da natürlich häufig Familien auseinandergebrochen waren und sicherlich auch Schuld- und Schamgefühle existierten, genauso wie Leiderfahrungen.
Aber über all das wurde nicht oder selten oder nur in Andeutungen geredet. Und wenn dann so ein Kind da ist, das möglicherweise sehr viel mit dieser verdrängten Zeit zu tun hat und einen daran erinnert, dann wird es natürlich zur Außenseiterfigur. Das darf es dann nicht geben. Denn sonst müsste man sich der eigenen Geschichte stellen. Insofern erzählt „Abseits“ – wie jeder Roman natürlich – nicht nur von einer Figur, sondern auch von den Umständen, in denen sie sich bewegt. Dass aber die Erwachsenen (und ja auch nicht alle) vermeintlich beschränkt oder ohne Mitgefühl auftreten, hat viel mit der Erzählperspektive zu tun: Es gibt einen älteren Erzähler, der versucht, sich in das Kind hineinzuversetzen. Der ist aus Sympathie zu dem Kind vielleicht nicht ganz verlässlich oder gerecht. Möglicherweise sind die Erwachsenen also gar nicht so schlimm, wie sie erscheinen. Nicht nur sind sie ebenfalls Kinder ihrer Zeit, sie werden auch noch durch eine bestimmte Brille gesehen.
1954 wurde Deutschland Fußball-Weltmeister. Der Roman spielt genau in diesem Jahr und trägt den Titel „Abseits“. Zudem kommt in der Figur „Charly“ ein Mitglied der Nationalmannschaft vor, Karl Mai. Sind das nur fußballerische Vorlagen oder haben sie eine tiefere Bedeutung?
Rüdenauer: Das knüpft ein wenig an das eben Gesagte an: Mentalitätsgeschichtlich war der Gewinn des WM-Titels 1954 natürlich ein wichtiges Ereignis. Man konnte wieder stolz sein auf ein Land, das ja nicht ohne Grund nach 1945 erst einmal politisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch aus dem Bund zivilisierter Nationen herausgefallen war.
Interessant ist aber gerade, wie bedeutsam diese WM und die Spieler für Kinder und Jugendliche waren. Wenn man mit Menschen spricht oder sprach, die etwa zwischen 1935 und 1945 geboren sind, dann scheint das etwas sehr Prägendes gehabt zu haben. Jeder kann Ihnen die Mannschaft von Bern aufzählen und die Ergebnisse der Spiele bis zum Finale herunterrasseln.
Für mein Buch hat das Ereignis noch eine besondere Bedeutung, weil für Richard sich dadurch ein Weg aus dem Abseits heraus auftut. Und tatsächlich wird der Spieler Charly, der als Kurgast in einem Ort namens Bad M. weilt und dem er dann in einem Kurpark begegnet, zu einer Art Helferfigur, zu einem Retter – auch wenn nicht klar ist, worin die Rettung besteht.
Da das Ende des Romans sich in eine fast märchenhaft offen wirkende Atmosphäre auflöst, drängt sich die Frage auf, ob es eine Fortsetzung des Romans gibt, ja sogar geben muss?
Rüdenauer: Erstmal würde ich mich gerne etwas näher an die Gegenwart heranwagen. Und ein ganz anderes Buch schreiben, mit einem ganz anderen Ton.
Aber in der Tat habe ich eine Fortsetzung der Geschichte Richards im Kopf. Er wird mich wahrscheinlich nicht ganz in Ruhe lassen. Fragen Sie mich aber nicht, wann ich mir wieder Zeit zum Schreiben freischaufeln kann. Ich habe keine Ahnung.
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