Bad Mergentheim. „Mein Beruf macht mich jeden Tag aufs neue glücklich“, sagt Jutta Gsell. Die leidenschaftliche Friseurin liebt Menschen, geht gerne auf sie zu und hält viel von Freundlichkeit. „Der Friseurberuf ist sehr empathisch. Wir sind ganz nah am Menschen dran“, fügt die gebürtige Pülfringerin hinzu und meint damit nicht nur die räumliche, sondern auch die emotionale Nähe: „Ich kenne die Lebensgeschichten vieler meine Kunden.“ Ein Satz, den wohl die allermeisten ihrer Kollegen sofort unterschreiben würden.
Beruflich auf Facebook und Instagram präsent zu sein, erachtet sie als wichtig. Während es früher ihrer Meinung nach ausreichte, als Salon oder allgemein als Handwerksunternehmen einen guten Ruf zu haben, sei heute der Erfolg in den sozialen Medien die Messlatte. „Ich bekomme auf Instagram auch immer wieder Anfragen, ob ich ausbilde“, erklärt Jutta Gsell. Das tut sie – erfolgreich und ebenfalls mit großer Leidenschaft: „Die jungen Menschen fordern und fördern auch mich und sorgen dafür, dass ich mich immer noch weiterentwickle.“
Allerdings koste diese Ausbildung Geld und Energie. Ihren Angaben zufolge investiert sie in diesen drei Jahren pro Lehrling gut 30 000 Euro.
Jutta Gsell ist aber nicht nur durch ihren Salon und ihre überregionale Funktion als Wella-Artist bekannt – durch ihre Brillen sticht sie auch optisch aus der Masse heraus. „Seit meinem 15. Lebensjahr sammle ich große Modelle. Momentan habe ich fünf Favoriten, zwischen denen ich immer hin- und herswitche“, sagt sie lachend. Jutta Gsell ist kurzsichtig, verbindet somit die Notwendigkeit, eine Brille tragen zu müssen, mit ihrer Liebe zum Ausgefallenen.
"Hässlich, diese Brille"
Momentan greift sie am liebsten zu einer XXL-Pilotenbrille, mit der sie auch auf vielen Vorher-Nachher-Videos mit Kundinnen bei Instagram zu sehen ist. Die allermeisten Kommentare sind nett und wohlwollend. Doch es gibt auch ein paar andere. „Hässlich, diese Brille“, „Wer erfindet nur solche Brillen?“, „Einfach nur unbequem und hässlich“ sind nur drei Beispiele von einigen, die man dort immer noch lesen kann und die mit dem eigentlichen Thema, dem neuen Aussehen der Kundin, überhaupt nichts zu tun haben. Unter einem Video, das sie mit einer Auszubildenden und deren Gesellenprüfung zeigt, die die junge Frau mit „Sehr gut“ bestanden hat, sagt Jutta Gsell in die Kamera: „Ich kann nicht nur große Brillen, sondern auch ganz schön gut ausbilden.“ Unter den Post schreibt sie: „Ja, ich liebe große Brillen“. „Ja, ich bekomme genügend Luft“. „Nein, es ist keine Taucherbrille.“
Die Wertschätzung überwiegt
Jutta Gsell steht über solcher Art von Kritik: „Ich erfahre jeden Tag so viel Wertschätzung. Außerdem habe ich schon immer mein eigenes Ding gemacht und polarisiert. Ich liebe die Vielfalt und will auch gar nicht jedem gefallen – zudem liegt Schönheit bekanntlich im Auge des Betrachters. Diese Brillen passen zu mir, und ich fühle mich wohl damit. Punkt.“ Was sie jedoch ärgert, ist der fehlende Respekt. „Ich bin mir sicher, dass fast niemand dieser Leute, die sich im Internet gerne hinter niedlichen Tierbildchen verstecken, den Mut hätte, mir ins Gesicht zu sagen, dass ihm meine Brille nicht gefällt. Diese Menschen brauchen offensichtlich ein Ventil, wodurch sie Luft ablassen können. Sie werden im ,richtigen’ Leben nicht gesehen, nicht wahrgenommen, aber auf Social Media werden sie gehört.“ Als besonders respektlos erachtet sie es, wenn auch ihre Kundinnen, die sich für das Vorher-Nachher-Video bereiterklärt haben, beleidigt werden. „Das ist ein ganz böses Luftablassen“, findet sie und sah sich schon gezwungen, Kommentare zu löschen.
Sinkende Wertschätzung gegenüber Friseuren
Die steigende Respektlosigkeit und sinkende Wertschätzung der Friseurinnen im Angestelltenverhältnis tun ihr ebenfalls weh. Jutta Gsell berichtet von einer ehemaligen Mitarbeiterin, die nach über 20 Jahren dem Friseurberuf den Rücken kehrte, weil sie die Konfrontation mit den Kunden – zum Beispiel wegen der wie überall gestiegenen Preise – nicht mehr ertragen wollte.
Die erfahrene Friseurin gibt zu bedenken: „Diese Kommentare auf Instagram und Facebook werden auch von jungen Leuten gelesen, die sich für den Friseurberuf interessieren. Die Gefahr ist groß, dass sie sich diesem Druck nicht aussetzen wollen und lieber einen anderen Job erlernen. Auch das sollten sich diese Hater einmal überlegen“, findet sie und weiß: „In diesem Beruf braucht man Rückgrat. Aber man bekommt so viel zurück. Für viele Menschen gleicht der Gang zum Friseur immer noch dem Besuch einer Wellness-Oase.“ Als Jutta Gsell ist sie übrigens nicht auf Social Media vertreten. „Privat“, sagt sie und lacht, „brauche ich das alles überhaupt nicht.“
"Brillen-Bashing" kein Einzelfall
Doch das „Brillen-Bashing“ von Jutta Gsell ist kein Einzelfall, wie eine Nachfrage der FN bei der in Tauberbischofsheim ansässigen Kreishandwerkerschaft Main-Tauber-Kreis und Schwäbisch Hall ergab. Ihre Geschäftsführerin Angelika Gold antwortete uns: „Ich kenne einige Betriebe und auch Organisationen, die über Social Media kritisiert oder angefeindet werden. Wir mussten die Erfahrung im Rahmen einer Kampagne für Nachwuchswerbung auf Facebook selbst machen und waren teilweise über das ,Wording’ der beteiligten Personen schockiert. Ich bin der Meinung, dass die Hemmschwelle mit der Anonymität des Netzes weiter sinkt. Zuerst haben wir beleidigende Beiträge lediglich gelöscht; später haben wir uns dann aber dazu entschieden, mit den betreffenden Personen in die Diskussion zu gehen. Wünschenswert wäre es, diese Diskussionen und Gespräche nicht in der Anonymität des Netzes, sondern in Präsenz zu führen. Ich bin mir sicher, dass viele Beteiligte nicht mehr so beleidigend unterwegs wären und Gespräche auf Augenhöhe möglich wären“, sagte sie.
Auf die Frage, ob der Ton auch im Handwerk schärfer werde, sagte Angelika Gold: „In Zeiten der Energiekrise, der schlechten Auftragslage beim Neubau und der allgemeinen Konsumrückhaltung sind die Auftragsbücher nicht mehr so voll wie früher. Jetzt ist die perfekte Gelegenheit, sich mit Social Media zu beschäftigen, um langfristig Mitarbeiter und auch Kunden zu binden. Jeder sollte mit Respekt behandelt werden und Beschimpfungen und Beleidigungen unterlassen. Gesetze wie das Datenschutz- und Persönlichkeitsrecht gelten auch im Internet. Leider wird das allzu oft vergessen. Wenn es sich um berechtigte Kritik handelt, ist eine respektvolle Diskussion wichtig. Menschen, die konstruktiv kritisieren, möchten, dass sich etwas verbessert. Wichtig ist, dass betreffende Personen sich durch die Anfeindungen und Beleidigungen nicht auf dasselbe Niveau begeben und sachlich bleiben.“
"Respektvollen Umgang vorleben"
Viele, so ihre Meinung, hätten ein falsches Bild vom Handwerk. „Da müssen wir noch viel Arbeit investieren, um das Image des Handwerks zu verbessern“, so die Geschäftsführerin. Die Kreishandwerkerschaft bietet betroffenen Auszubildenden gemeinsam mit den Ausbildungsberatern der Handwerkskammer Heilbronn-Franken Mentoring und Unterstützung an, um mit der Kritik besser umzugehen. Angelika Gold: „Wichtig ist, dass die jungen Menschen ein starkes Selbstbewusstsein aufbauen. Eltern, Betriebe, Mitarbeiter und Kollegen sowie die Lehrer müssen gemeinsam das Selbstbewusstsein fördern, damit sie besser mit negativem Feedback umgehen können. Die Ausbildungsbetriebe stehen in der Pflicht, den Arbeitsplatz für den Azubi sicher und geschützt zu gestalten.“ Sie betont, dass „wir alle einen respektvollen Umgang miteinander vorleben müssen“. Jede Person und jeder Betrieb müsse individuell entscheiden, wie er auf sozialen Medien wie Instagram, Tiktok und Co. agiert – ignorieren, moderieren, diskutieren, positionieren, ironisieren.
Oder letztendlich löschen.
URL dieses Artikels:
https://www.fnweb.de/orte/bad-mergentheim_artikel,-bad-mergentheim-bashing-so-geht-eine-bad-mergentheimer-friseurin-mit-kritik-an-ihren-brillen-um-_arid,2212333.html