Gerichtsprozess

Bad Mergentheim: Wegen 240 Euro in Haft?

Der Fall eines Ladendiebs aus Bad Mergentheim stellt Richterin Susanne Friedl vor eine schwierige Entscheidung. So entscheidet sie sich.

Von 
Simon Retzbach
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Eine Flasche mit Nagellack verschwindet in einer Hosentasche (gestellte Szene). Seit einigen Jahren steigen die Zahlen von Ladendiebstählen rasant, auch in Bad Mergentheim wird immer wieder gestohlen. © picture alliance/dpa

Bad Mergentheim. 4,2 Milliarden Euro – so hoch schätzen Fachleute den Schaden durch Ladendiebstähle in Deutschland für das Jahr 2024 in einer neuen Veröffentlichung. Dem Bericht zufolge hat der Ladendiebstahl seit der Corona-Pandemie zugenommen, obwohl die Polizei für 2024 einen Rückgang der gemeldeten Fälle um fünf Prozent meldet. „Insgesamt 98 Prozent aller Diebstähle bleiben in Deutschland unentdeckt, was bedeutet, dass die Zählung der Verluste eine Überprüfung der Lagerbestände auf fehlende Artikel erfordert“, heißt es im Bericht.

Insofern ist der nun angeklagte Bad Mergentheimer gewissermaßen eine Seltenheit. Denn seine wiederholten Versuche des Diebstahls in der Müller-Drogerie wurden durch das Personal entdeckt. Gleich mehrfach und trotz eines Hausverbots suchte der M. den Markt auf und hatte es dort jeweils auf Parfüm abgesehen. Vor dem Hintergrund der Milliardensumme, die durch Ladendiebstähle als Schaden entsteht, fällt die anvisierte Beute des Mannes jedoch fast bescheiden aus: Drei Fläschchen mit einem Wert von je etwa 80 Euro, zusammen also rund 240 Euro, versuchte er zu stehlen. Doch Erfolg hatte er keinen, wurde jeweils von Mitarbeiterinnen der Drogerie erwischt.

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Michael Weber-Schwarz
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Als Grund für seinen Diebstahl gibt der Mann vor Gericht an, kein Geld zu haben und mit dem Parfüm Schulden begleichen zu wollen. Außerdem habe er von Erlösen aus dem Weiterverkauf der Diebesware Lebensmittel kaufen wollen. Das dieses Parfüm als Zahlungsmittel für Drogen dienen sollte, wie von Richterin Friedl als ‚szenetypisch‘ vermutet, bestreitet er. Die Richterin lässt durchblicken: Diebstähle sind quasi Tagesgeschäft für sie – und auch für die Mitarbeiterinnen der Müller-Drogerie. „Die Angestellten dort erkennen mich alle, weil dort einfach so viel geklaut wird und sie dann hier vor Gericht aussagen müssen“, erzählt sie.

Ein Ladendiebstahl eskalierte in „enthemmter“ Gewalt

Viel geklaut hat wohl auch der Angeklagte M. – zumindest laut seiner doch umfangreicheren Gerichtsakte. Immer wieder wurde er bei Diebstählen erwischt und verurteilt. Dabei zeigt sich: Die „Angst“, die Mitarbeiterinnen vor dem Mann hatten, ist nicht unbegründet. Denn bei einem Diebstahl in Heilbronn, der von einem Ladendetektiv entdeckt wurde, eskalierte die Situation: „Ungehemmt“, so zitiert Friedl aus der Akte, habe M. den Detektiv damals attackiert und selbst dann nicht aufgehört, als der Mann zu Boden ging. Tritte gegen den Kopf, das Opfer bis heute geschädigt – das alles wegen einer einzelnen Backware im Wert von 79 Cent. Für diese Tat hat der Angeklagte heute nur ein kurzes Lächeln übrig.

Die Müller-Drogerie in der Bad Mergentheimer Burgstraße ist laut Richterin Susanne Friedl häufiges Ziel von Ladendieben. © Simon Retzbach

Richterin Friedl findet das offenbar weniger amüsant. „Ich habe echt wenig Verständnis für Ihre aktuelle Situation. Sie sind seit zehn Jahren hier und haben weder eine Ausbildung noch einen Job. Sie sind ein junger, gesunder Mann. Ich erwarte Bemühungen von Ihnen, Ihren Lebensunterhalt zu verdienen“, macht sie dem Angeklagten, der 2015 bei der Einreise auch durch die Angabe mehrerer falscher Namen auffiel, klar. Er bediene die Klischees von AfD-Wählern und erschwere so vielen fleißigen Menschen die Integration, hält die Richterin dem weitgehend emotionslosen Angeklagten vor.

Anklage will den Mann im Gefängnis sehen

Doch wie ist ein solcher Fall juristisch zu werten? Für Staatsanwalt Peter Laiolo ist die Sache klar: Er fordert eine Haftstrafe von 14 Monaten – ohne Bewährung. „Sie haben in zehn Jahren hier relativ wenig erreicht“, wirft er dem Mann vor. Erschwerend komme hinzu, dass er zuletzt im Mai 2024 verurteilt wurde und die nun verhandelten Taten im Juli passierten. „Eine denkbar ungünstige Sozialprognose“ sorgt zudem dafür, dass Ankläger Laiolo den Mann im Gefängnis sehen möchte.

Bewährung oder nicht? Eine häufige Frage am Amtsgericht. Entscheidend ist dann eben die Sozialprognose, also die Zukunftsperspektive eines Angeklagten. Gibt es Dinge, die für einen positiven Lebenswandel in Zukunft sprechen? Eine wichtige Frage, wenn es um Haft oder Freiheit geht. So wenige Argumente für eine positive Prognose wie im aktuellen Fall dürfte es allerdings nur selten geben. „Wir haben halt nicht viel anzubieten, das ist einfach schlecht“, macht auch Verteidiger Thomas Koch seinem Mandanten am Rande des Prozesses mit hörbarer Ratlosigkeit klar. Im Plädoyer hofft er dennoch, dass man seinem Mandanten „nochmal Vertrauen“ in Form einer Bewährung einräumt.

Kosten für Diebstahl tragen ehrliche Kunden

Susanne Friedl wirkt im Urteil nachdenklicher als in vergleichbaren Fällen. „Ich tue mich mit einer positiven Sozialprognose echt schwer“, fasst sie nochmal zusammen, was sie zuvor bereits mit deutlichen Worten formulierte. Und dennoch: Die zehn Monate Freiheitsstrafe setzt sie zur Bewährung aus, „ein riesengroßer Vertrauensvorschuss“, wie sie es nennt. Es wird deutlich: Der geringe Warenwert des Diebesguts dürfte eine Rolle gespielt haben, weshalb der Mann nicht in Haft muss. Zumindest vorerst, denn Friedl appelliert nochmal an den Angeklagten: „Ich werde nicht viel Geduld haben. Machen Sie was draus!“

Ein Einblick in die juristische Aufarbeitung eines regelrechten Massendelikts. Hunderttausende Fälle sind es laut Statistik in Deutschland jährlich. Mit Folgen für alle Kunden: Einzelhandelsunternehmen gaben 2024 mehr als drei Milliarden Euro ihres Umsatzes für Sicherheitsmaßnahmen wie Personalschulung, Kameraüberwachung oder Ladendetektive aus. Nimmt man die rund vier Milliarden Diebstahlsschäden hinzu, entstehen Gesamtkosten von mehr als sieben Milliarden Euro – in nur einem Jahr. Dies entspricht etwa 1,5 Prozent des Verkaufspreises eines durchschnittlichen Kaufs. Das bedeutet: Ehrliche Kunden tragen letztlich die Kosten.

Redaktion

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