Nur extrem naive Zeitgenossen haben ernsthaft geglaubt, dass die erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensiven ohne Antwort Moskaus bleiben werden. Jetzt hat Wladimir Putin reagiert: Er zwingt seinem Volk eine Teilmobilmachung auf. Sie ist das Eingeständnis des militärischen Scheiterns auf ganzer Linie.
Die angeblich so überlegene russische Armee hat es in einer gigantischen „Spezialoperation“ nicht geschafft, die viel schlechter bewaffneten Ukrainer zu überrollen und zu besiegen. Die große Motivation, die eigene Heimat zu verteidigen, und dosierte Waffenhilfen aus dem Westen haben gereicht, um die militärische Weltmacht Russland zu stoppen.
Jetzt muss Putin offiziell auf „Krieg“ umschalten, um nicht in wenigen Wochen mit geschlagenen Kämpfern zum Rückzug gezwungen zu sein. Der Präsident hofft, dass 300 000 Männer, die er zusätzlich in die Schlacht werfen kann, am Ende den Unterschied machen.
Der Plan ist bedrohlich für alle Seiten. Aber für Putin ist das Risiko größer als für die Ukraine oder den Westen. Das Einziehen von Reservisten aus ihren Familien und aus dem Alltag ist maximal unpopulär und wird die Haltung der russischen Bevölkerung zum Krieg drastisch verändern. Es ist ein großer Unterschied, ob reguläre Soldaten aus den Kasernen in Marsch gesetzt werden oder ob die Ehemaligen zurück an die Waffen gerufen werden.
Der Mobilmachungsplan ist somit extrem gefährlich für den Präsidenten, der überraschend lange auf breite Zustimmung in der Bevölkerung bauen konnte. Berichte über ausgebuchte Auslandsflüge und ungewöhnliche, lange Staus an der Grenze zu Finnland sind erste Hinweise darauf, dass Russlands Bevölkerung kriegsmüde geworden ist und keine weiteren, sinnlosen Opfer bringen will. Sowohl die Teilmobilmachung als auch der Versuch, die Gebiete Donezk und Luhansk mit scheindemokratischen Referenden schnell zu russischem Staatsgebiet zu machen, sollen die westliche Allianz beeindrucken und die Kriegsangst schüren. Diese Angst - auch vor dem Einsatz taktischer Atombomben - ist eine Waffe, die Putin immer dann nutzt, wenn es eng für ihn wird. Und jetzt wird es richtig eng.
Wenn die Teilmobilmachung nicht funktioniert und sich immer mehr Reservisten der russischen Militärpolizei entziehen, stellt sich in Russland schnell die Frage: Wie viel Macht hat denn der Herrscher im Kreml noch?
Bis die unwilligen Reservisten des Präsidenten an die Front kommen, kann die ukrainische Armee Fakten geschaffen haben, die nur unter größtem Blutzoll zu revidieren sind. Dazu kommt: Putin sieht die Gefahr des militärischen Scheiterns und hat aus gutem Grund die Strafen für Befehlsverweigerer drastisch erhöht. Wer den Waffendienst nicht leisten will oder sich freiwillig in ukrainische Gefangenschaft begibt, muss bis zu zehn Jahre ins Straflager.
Wladimir Putin zeigt mit diesen rigiden Methoden den Russen und der ganzen Welt, dass die Kampfmoral seiner Armee schon wenige Monate nach dem Überfall auf die Ukraine abhandengekommen ist. Das macht ihn nicht stärker, sondern schwächer.
Um das Dilemma des russischen Präsidenten zu nutzen, müssen Europäer und Amerikaner einen kühlen Kopf bewahren und weiter solidarisch an der Seite der Ukraine bleiben. Je entschlossener und größer die Allianz gegen Russland wird, desto schlechter sind Putins Chancen, mit seinem aggressiven Imperialismus gegen die Ukraine und andere ehemalige Sowjetrepubliken durchzukommen.
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Fränkische Nachrichten Plus-Artikel Kommentar Die Teilmobilmachung zeigt, dass Putin gescheitert ist
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