Zeitzeichen

Was will uns das Kind denn sagen?

Eine Szene vor einer Kindertagesstätte wirft Fragen auf: Wie klein sind Kinder wirklich? Und sollten sie, um Erwachsene besser zu verstehen, Shakespeare lesen? Unser Kolumnist ist bestrebt, sich in ihre Welt einzufühlen.

Von 
Thomas Groß
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Neulich in der wirklichen deutschen Gegenwart. Der Stadtteil hätte früher als „besseres Viertel“ gegolten, die Szene spielt gegen 8 Uhr am Morgen vor einer Kindertagesstätte. Eltern, anderswie Erziehungsberechtigte oder auch Angehörige bringen Kinder im Vorschulalter, die sich nach Meinung einer Mutter nicht einreden lassen sollten, sie seien klein – sie seien nämlich nur kurz. Vielleicht denkt eine vermutlich Dreijährige an diesem Morgen, an jenen Standpunkt anschließen zu können, jedenfalls mahnt sie den mutmaßlichen Vater, Bart- und Brillenträger, schneller zu machen. „Beeil dich!!!“, hört man sie anklagend rufen – , was er versucht, mit demonstrativer Gelassenheit und der Aufforderung zum Verständnis zu kontern. „Ich muss hier ja noch aufräumen, was du einfach liegenlässt“, sagt er unter Anspielung auf ein Dreirad und eine Provianttasche.

Entscheidung in der Eisdiele

Das „kleine“ Mädchen will das nicht hören. „Blöder Aschrauch“, ranzt es ihn an, wobei der Angesprochene ebenso wie der stille Beobachter, der sich auf dem Mini-Sportplatz nebenan mithilfe einiger Lockerungsübungen unsichtbar macht, vermuten, dass das Kind noch Probleme mit der Artikulation des Buchstabens R hat, sofern dieser nicht am Wortanfang steht. Jedenfalls versteht auch der Mann die Äußerung als Beleidigung; das zeigt seine immer noch ruhige Entgegnung. „Das ist unflätig“, sagt er zu dem Kind, das mit dieser Information womöglich nichts anzufangen weiß. Oder doch? Vielleicht ist es genervt, weil schon wieder so viel geduldige Einsicht und Entscheidungsfähigkeit von ihm erwartet werden; hätte ja auch gereicht, wenn das erst heute Nachmittag in der Eisdiele erneut der Fall gewesen wäre, wo es zuverlässig von einem Elternteil, der sich geduldig zwischen Verkäuferin und Kind platziert, gefragt werden wird: „Nun, welche Sorten magst du? Du darfst dir zwei von den zwölf aussuchen.“

Kennt das Kind „Hamlet“?

Oder das Kind ist wirklich sehr klug, hat „Hamlet“ gelesen und weiß deshalb, dass wer viel überlegt und viel redet, kaum zum Handeln kommt – ganz so wie der langsam aufräumende mutmaßliche Vater mit Brille und Bart. Was aber soll die Wortzusammensetzung mit „Rauch“? Ach ja, Worte sind, wie Namen, Schall und Rauch, entsprechendes steht bei Goethe. Das gehört sicher auch zum Wissensbestand dieses Kindes und wird deshalb vom demonstrativ gelassenen Bart- und Brillenträger nicht thematisiert. Vermutlich ist er sehr zuversichtlich, dass das durchsetzungsbereite Kind eine große Zukunft hat. In der Kita werden sich nun erst einmal andere mit ihm befassen (müssen). 

Redaktion Kulturredakteur, zuständig für Literatur, Kunst und Film.

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