Kolumne #mahlzeit

Wir brauchen Radarfallen im Supermarkt

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Gleich der erste Supermarktbesuch im neuen Jahr hat mir eine frustrierende Erkenntnis eingebracht: Die Hoffnung , der Mensch könne sich doch eines Tages erneuern und verbessern, ist eine konkrete Utopie und muss von Ernst Bloch stammen. Von wegen Der-über-sich-hinausdenkende-Mensch! Gehe in den Supermarkt, stelle dich an der Kasse an und du weißt, inwieweit der Mensch fähig ist, über sich hinauszudenken. Aber von vorn.

Du stehst also seit zehn Minuten in der Schlange und hast dich schon fast in die Pole-Position vor-gewartet (Pole-Position hat jetzt nichts mit Polen- oder Polinnen-Bashing zu tun!), als die Frau (m/w/d, ich will ja nicht sexistisch sein) vor dir den Inhalt ihres drei Zentner schweren Einkaufswagens auf das Förderband legt. Wursträdchen für Wursträdchen. Whiskas für Whiskas. Damenbinde für Damenbinde (okay, für Männer ersatzweise: Bier für Bier). Du übst dich in Coolness, holst dein Phone raus und schaust auf einer App (vergeblich), ob die Bayern zum ersten Mal seit 100 Jahren nicht gewinnen, als du eine Stimme hörst: „Sie können auch zu mir kommen!“ Etwas regt sich.

Nun geht es nicht nach dem Prinzip Hoffnung weiter. Es geht nach dem Prinzip Ego weiter oder: Ich-will-Erster-sein. Die konkrete Utopie der Menschen hinter dir in der Schlange lautet: Ich will nur noch minimal warten und die in der Schlange vor mir Positionierten maximal ärgern. Matthäus 20, 16. „So werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“ Die Letzte in der Schlange brettert also mit ihrem Wagen wie eine gesengte Sau an die neu eröffnete Kasse und löst eine Kettenreaktion hinter dir aus. Ohne sich auch nur den Hauch einer Sekunde zu fragen, ob es nicht höflich, human oder einfach nur nett wäre, den oder die davor (und so weiter) zu fragen: „Entschuldigung, Sie waren ja vor mir da. Wollen Sie nicht an die andere Kasse gehen?“, denkt jeder nur an sich.

An der Kasse wird der Mensch zum jagenden Tier, das nur noch darauf bedacht ist, seinen Vorteil zu erlangen. Der Löwe lässt ja bei der Gazellen-Jagd auch nicht einem anderen galant den Vortritt. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Brecht. Egoismus ist Einsamkeit. Schiller. Ich, mich, meins. The Beatles. Keine Spur von der Utopie: „Ich bin. Wir sind. Das ist genug“. Bloch. Stattdessen: Raubtieregoismus!

Mit der Utopie, der Mensch könne vielleicht sozial, ökonomisch und religiös über sich hinausdenken und -wachsen, ist bei meinem ersten Supermarktbesuch des Jahres auch mein guter Silvesternachtvorsatz dahingeschmolzen, 2022 netter dreinzuschauen (manche Menschen sind, wenn sie mich zum ersten Mal treffen, verwundert, dass ich auch ein bisschen nett sein kann. Ich muss da was an meinem Image drehen). Ich habe die Leute auf der Kassenüberholspur unfreundlich angesehen, glaube ich.

So beginnt das neue Jahr, wie das alte endete. Der Mensch ist über Weihnachten nicht besser geworden. Ich bin dafür, dass man zwischen Supermarktkassen Radarfallen aufstellt. Die Egoisten müssen geblitzt werden. Anders sehe ich keine Gerechtigkeit.

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Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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