Kolumne #mahlzeit

Neutralität in diesem Krieg ist die höchste Form von Zynismus

Bela zeigt sich plötzlich als Befürworter massiver Waffenlieferungen an die Ukraine: Wer der Ukraine Hilfe verweigere, solle die Panzer, Bomber und Raketen gleich nach Moskau schicken. Das stiftet Verwirrung

Von 
Stefan M. Dettlinger
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© kako

Irre, ihn mache es irre, sagt Bela, dass es Leute gibt, die sagen: Das geht mich doch nichts an, was die Russen da in der Ukraine treiben. Wir sollten uns, wie die Schweiz, möglichst neutral verhalten. Bela: „Wie kann man nur so zynisch sein! Wie kann man nur so gleichgültig sein!“ Alya meint, sie verstehe die, die neutral bleiben oder rumeiern wie der Bundesscholz, sie selbst sei „schon auch“ so, allein, weil sie nicht wolle, dass Deutschland und Europa Kriegspartei würden: „Ich habe Verantwortung – nicht nur für mich.“ Sie streichelt sanft über ihren Bauch.

„Aber“, entgegnet Bela, „was sagst du, wenn Putins Credo lautet: ,Wir werden weitermarschieren, wenn alles in Scherben fällt – und heute gehört uns Russland und morgen die ganze Welt?’ Was sagst du dann? Außerdem: Was hältst du von einem, der in der Tram neben einem Typen steht, der von einem Stärkeren vermöbelt wird, und sich sagt: ,Ich bin neutral, was kann ich dafür, dass der verprügelt wird!’ Was ist der?“ Alya staunt. Auch ich habe Bela nie so politisch engagiert erlebt. „Ein feiges Arschloch“, so Bela, „ein feiges Arschloch ohne Zivilcourage!“

Ich kann mir die Frage nicht verkneifen: „Sag mal, was hast du denn heute geraucht?“ Ich solle jetzt mal ganz schnell den Mund halten, fährt Bela mir über den Mund, und nicht auch noch mit dieser un-er-träglichen Neutralitätspropaganda anfangen, das sei die höchste Form von Zynismus: „Ich finde: Wer den Ukrainerinnen und Ukrainern Hilfe verweigert, sollte die Panzer, Bomber und Raketen gleich nach Moskau schicken, damit diese verdammten Hurensöhne die Sache in der Ukraine schnell erledigen und die Sowjetunion 2.0 ausrufen können. Man muss dann aber wissen: Die Grenze der UdSSR 2.0 zu den USA verläuft dann in der Normandie. Tschüs Deutschland. Tschüs Europa. Tschüs freie Welt.“

Vielleicht sei das besser als ein erdvernichtender Atomkrieg, sagt Alya und zitiert dann auch noch den Philosophen Jürgen Habermas, 93, der in etwa geschrieben habe, durch eine Philosophie des unbedingten Siegens der Ukraine steuere man auf einen Point of no Return zu, mit dem unweigerlich der Kriegseintritt des Westens verbunden sei. „Habermas hat auch von einem ,bellizistischen Tenor einer geballten öffentlichen Meinung’ gesprochen. Das deutsche Volk betreibt Kriegstreiberei! Und du betreibst sie auch, Bela!“

Ich muss sagen: Das wirkt zwar wie eine blöde Bemerkung von Alya. Jeder von uns, jeder würde ja sofort mit Putin verhandeln. In Bezug auf die Angst vor einem Armageddon auf Erden darf man aber nicht vergessen, dass der ehemalige Präsident Russlands Dmitri Medwedew gepostet hat: „Die Niederlage einer Atommacht in einem konventionellen Krieg kann den Ausbruch eines Atomkrieges provozieren.“ Noch Fragen? Tatsächlich enden Kämpfe am Ende mit den schwersten Waffen, weil ja jeder gewinnen will.

Ich muss sagen: Es. Ist. Katastrophal. Die einzige Hoffnung: Belas Metamorphose vom versnobten Porsche-Protz zum polternden Kämpfer könnte ein Hinweis sein, dass das Bonsai-Biest im Kreml doch noch einen geistigen U-Turn hinlegen könnte?

Schreiben Sie mir: mahlzeit@mamo.de 

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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