Ein typisches Samstagsgefühl kennt wohl jeder, der irgendwie berufs- oder werktätig ist - vorausgesetzt, die vorhergehenden Tage sind arbeitsreich gewesen und ein freier Sonntag steht bevor. Dann wirkt am Samstag nach, was zuvor gewesen ist, was erarbeitet oder gar erlitten wurde und mit nervlicher Belastung verbunden war. Und die Stimmung ist wohlig-erleichtert und geprägt von der Vorfreude auf jenen Tag, der ganz der Ruhe und Besinnung gewidmet werden darf. So ist es in herkömmlichen Wochen ebenso für gläubige wie für gar nicht oder nur weniger gläubige Zeitgenossen.
Man atmet durch und auf. Man gönnt sich eine Pause, hält Sorgen und Plagen, die auch von weit her an einen dringen und an Mitgefühl und Solidarität appellieren, von sich fern, solange die kleine Auszeit dauern darf. Der nächste Werktag kommt schließlich früh genug, und verlässlich mit ihm folgen neue Berichte über Krieg und andere Krisen dieser Zeit. Auch die Karwoche wird entsprechend empfunden, aber tiefer freilich und religiös grundiert: Das ganze Elend dieser Welt, das sich in der Passion spiegelt, das Leiden und Sterben am Kreuz, ist am Karsamstag schon vorüber; es wirkt nach, weil die Glaubensgemeinschaft sich erneut ihrer Zeugenschaft versichert. Das eigentliche Osterfest aber, die Auferstehung, der Sieg über den Tod und die Erlösungstat für die ganze Menschheit, welche das Christentum im Ostergeschehen verwirklicht sieht, steht noch aus.
Es beginnt erst in der kommenden Nacht. Noch ist die Welt dunkel, das Licht kehrt erst morgen wieder, aber man weiß immerhin, dass es so kommen wird, man vertraut darauf oder hofft zumindest, dass es so kommt.
Das Leid der Welt
Der vor drei Jahren verstorbene US-amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner hat auch die Kunst mit Bezug auf die Karwoche gedeutet. Demnach weist sie in ihren Werken auf Ostern und die Erlösung gleichsam voraus und bezeugt in sich, in ihren Themen und Stoffen, das Leid der Welt. Große, bedeutende Kunst - von kleinerer spricht ein George Steiner nicht - kann die tröstliche Zuversicht vermitteln, dass auch wir erlöst werden und einer guten Zukunft entgegensehen, ungeachtet der tatsächlichen Verhältnisse, in denen wir momentan leben. Besser, meint man ja meistens, könnte es immer werden.
Werke wie Bachs „Matthäus-Passion“ und Oster-Kantaten, der „Isenheimer Altar“ oder weitere Bilder von Matthias Grünewald machen die christliche Botschaft per se sinnlich erfahrbar, aber eben mit künstlerischen Mitteln höchster Qualität. Man kann hier förmlich nicht anders als christlich zu empfinden - sofern man die Inhalte eben versteht und einzuordnen in der Lage ist. In jedem Fall aber wird das Mitgefühl stimuliert, teilt sich Leiden mit und hört und sieht man auch einen Ausdruck von Freude.
Andere Werke behandeln nicht dezidiert religiöse Stoffe, aber in einem christlichen Kontext lassen sie sich ebenfalls deuten - schon deshalb, weil eine fortgeschrittene Religion wie die christliche nicht weniger beansprucht, als schlicht alle Lebensäußerungen, also auch die künstlerischen, entsprechend auszulegen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die christlichen Inhalte selbst ja durch Texte illustriert und begründet werden.
Der Koran soll bekanntlich das Wort Gottes selbst enthalten, in der Bibel hingegen finden sich überwiegend literarische Gestaltungen. Jesus erzählt Gleichnisse, um zu illustrieren, worum es ihm geht, um es buchstäblich fassbar zu machen; die Weihnachtsgeschichte ist ein gutes, schönes Stück Literatur, und auch im Alten Testament werden Geschichten und Mythen entfaltet, sei es die Erzählung vom Sündenfall oder die von Hiob, dessen Glaube auf eine harte Probe gestellt wird.
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, heißt es im Matthäus-Evangelium - sondern von jedem Wort, „das aus dem Munde Gottes kommt“. Leib und Geist hängen zwar zusammen, werden aber doch als zweierlei gedacht. Entsprechendes gilt für die jeweilige Nahrung, also die körperliche oder auch die geistige. Es gibt das irdische und das himmlische, geistige Leben. Und auch die Kunst gilt eben als mentale, geistige Nahrung, die über die Welt und ihre Widrigkeiten hinauszuweisen oder auf Transzendentes schon im Hier und Jetzt zu verweisen vermag.
Versöhnte Daseinsformen
Sie bildet eine eigene ästhetisch-künstlerische Welt und Wirklichkeit, eine Welt aus Tönen und Klängen, Farben und Formen, symbolischen und metaphorischen Redeweisen. Noch heute entzieht sie sich vielfach den machtvollen Ansprüchen des von Zwist und Widrigkeiten geprägten Alltags und macht zudem bessere, versöhnte Daseinsformen vorstellbar und bereits anschaulich. Als Alternative wird von ihr ein Weg zu friedlichem Einvernehmen aufgezeigt, der zugleich eingeübt werden kann in ihrer verständigen Wahrnehmung.
Samstage eignen sich schon aus rein praktischen Gründen besonders gut, um sich auch künstlerischen Genüssen zu widmen. Und ob man dem folgenden Sonntag nun mehr oder auch weniger gläubig entgegensieht - mit Kunst lässt sich die (Warte-) Zeit in jedem Fall gewinnbringend überbrücken.
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