Herr von Deylen, als wir uns vor vier Jahren zuletzt gegenüber saßen, haben Sie einen ungewöhnlichen Satz gesagt, den ich bis heute nicht vergessen habe: „Um ganz bei mir zu sein, muss ich alles Gelernte vergessen.“ Wenn ich das wörtlich nehme, muss ich heute sagen: 25 Jahre, jeden Tag ein Neuanfang, ein neuer Beweis. Wieso diese kämpferische Herausforderung?
Christopher von Deylen: Erfahrung kann uns als Menschen klüger machen. Das sollten wir uns auch gar nicht abtrainieren. Aber kreativ-musikalisch kann die Lernkurve auch Schaden erzeugen. Ich denke da ganz konkret an diese in Würde gereiften Musiker, die immer wieder Gefahr laufen, einer auserzählten Selbstzufriedenheit zu erliegen. Das hat mich von Beginn an abgeschreckt. Denn es war doch ein Beginn, und an diesem Anfang wollte ich doch nicht hören, dass eines Tages der Zustand einkehrt, an dem ich beginne, meine eigene Kunst über mich ergehen zu lassen. Ein wichtiges Vorbild in dieser Hinsicht war für mich Anette Humpe, die ich als Studiopraktikant in den 90ern mit ihren derben Bonmots erlebte und Jahre später auf dem Autorenpreis der GEMA wieder traf, als sie sich fast darüber ärgerte, für ihr Lebenswerk ausgezeichnet worden zu sein - viel lieber hätte sie einen Newcomer-Preis erhalten. Damals habe ich das nicht verstanden, heute teile ich dieses Ziel: Newcomer für immer.
Christopher von Deylen
Der deutsche Komponist, Musiker und Produzent Christopher von Deylen kommt am 15. Oktober 1970 in Visselhövede zur Welt.
Bekannt ist der heute 52-Jährige vor allem mit seinem Elektromusik-Projekt Schiller, das visuelle Installationen mit sphärischen Klängen elektronischer Musik verzwirnt.
Auf seinem aktuellen Doppelalbum „Illuminate“ setzt Christopher von Deylen auch politische Akzente, indem er Künstlern aus dem Iran und der Ukraine Gehör schenkt.
Am 4. Mai ist von Deylen zum 25-jährigen Jubiläum seines Projekts um 20 Uhr mit einem Konzert in der Mannheimer SAP Arena zu Gast. Tickets ab 44 Euro gibt es unter anderem auf www.saparena.de mer
So jung also und schon so viel Reife?
von Deylen: Ich war naiv, dass es nur so krachte. Stellen Sie sich vor: Ich 1994 in den legendären Hansa-Studios, Berlin, Wittelsbacher Straße. Mein Sitzplatz, ein winziger Hocker, vor mir an einem gigantischen Eichenschreibtisch in einem Hawaiihemd mit weißer Rose, Bommel-Slippern und einer ganzen Kollektion an Gold-Platten: George Glück. Der wollte mir nicht nur einreden, ich sei der neue Frank Farian, doch mir zu dem Ruhm zu verhelfen, den ich angeblich verdiene, sei eben auch atemberaubend teuer. Auch, wenn Peter Meisel die Blamage für mich noch abmilderte: Die beiden zogen mich bei der Lizenzbeteiligung über den Tisch, ohne das auch nur im Ansatz zu verstecken. Ich wusste ganz genau: Da liegt genau jetzt vor mir ein riesiges Tablett mit Kreide, das ich fressen muss, um zu bestehen. Genau da wird aus der Naivität Reife - wenn du begreifst, dass es eines Tages anders sein wird und dir alles genommen werden kann, aber niemals dieser empfindliche und doch unzerstörbare Glaube an sich selbst.
Wie haben Sie das nur bewältigt, diesem Druck standzuhalten, den Auftrag des eigenen biografischen und künstlerischen Daseins pausenlos von Neuem gerecht werden zu müssen?
von Deylen: Ich trenne das tatsächlich sehr strikt. Den Druck von außen wehre ich - manchmal auch unnötig trotzig - ab. Aber den Druck mir selbst gegenüber brauche ich essentiell. Weil ich sonst irgendwann denken müsste, ich weiß jetzt, wie alles geht. Wie töricht! Und das nicht nur in der Musik, auch grundsätzlich, wenn die vermeintlich Angekommenen mehr Energie darauf verwenden, etwas nicht zu tun, als die Chance auf Neues beim Schopfe zu packen. Es mag wie eine kühne These klingen, aber ich möchte behaupten, dass in Deutschland und ganz Europa derart gerne darüber philosophiert wird, warum etwas nicht funktionieren kann, dass jeder Glaube an eine mögliche Lösung von vornherein eliminiert wird. Ich hatte das Privileg, einige Jahre in den USA zu leben, wo selbst bei den verrücktesten Ideen kaum je nach einem „Warum?“, sondern zentral vor allem nach dem „Wie?“ gefragt wird. Und selbst, wenn die Pläne misslingen, gilt das Sprichwort: fail forward. Fortschritt durch Scheitern. Ich liebe dieses Konzept, auch, wenn ich mir in einer Zeit, die das Verordnete reflexhaft auslebt, damit nicht unbedingt Freunde mache. Aber ich bin mir sicher, dass es immer heilvoller sein wird, sich die Suche nach dem kleinen eigenen Glück zu gestatten.
Höre ich da fast schon eine Art Enthusiasmus heraus, sich immer wieder zur Disposition zu stellen - was immer sich daraus auch ergeben mag - ob im Studio oder demnächst live in Mannheim?
von Deylen: Vor Jahren sah ich auf Youtube eine Dokumentation über den legendären Brian Eno, der während eines Interviews geradezu besessen von der Frage war, was für einen Unterschied seine Kunst auf der Welt macht. Warum bin ich hier und weshalb braucht es mich? Ich fühle mich dem extrem verbunden, weil ich ein überhebliches Ich nicht eine Sekunde lang ertragen könnte, das auch nur denkt: Platz da, hier kommt der große Schiller! Die Konsequenz aus diesem calvinistisch-stoisch-ehrzeigen Ansatz ist die Erfordernis eines eingelösten Beweises für gerechtfertigte Aufmerksamkeit - und da fühle ich wieder mit Brian Eno, der später in diesem Interview auf die Frage, ob er sich denn nie freue, antwortete: Doch, manchmal, 15 Minuten lang - und dann gewinnt der Zweifel wieder.
All das als Person, die mit zwei Koffern durch die Welt zieht, genug Inspiration sammeln durfte, um sich in einem Vierteljahrhundert nie auszuerzählen und dennoch mit dem Zielkonflikt hadern muss, wie man Wesentliches, Bleibendes erschafft, das nicht nur theoretisch reizvoll erscheint, sondern auch konkret praktisch hörbar werden darf. Geht noch mehr Komplexität?
von Deylen: Meine Musik muss wesentlich sein, um von mir die Erlaubnis zu erhalten, bestehen zu dürfen. Ich gebe Ihnen ein ganz aktuelles Beispiel, das einen nostalgischen Bogen schließt. Mit dem Kopf von Tangerine Dream habe ich dieses 20-minütige Stück „Midsommar“ aufgenommen, das man im Jahr 2023 als Kampfansage verstehen darf. Denn das immer populärere Streaming hat es als erstes Format geschafft, Regeln zu setzen, die Inhalte verändert haben. Pop hatte auf einmal Kriterien zu bedienen, um dem Algorithmus zu gefallen. Und auch ich muss mich fragen: Opfere ich meine Ideen auf dem Altar der Algorithmen? Wenn man sich dafür entscheidet, ist das absolut legitim, dann darf man sich aber nicht beschweren, wenn das eigene Wirken im Zweifel zum Hintergrundrauschen verschwimmt. Diesen verengten Korridor kann und will ich mir und meinem Publikum aber nicht zumuten.
Und vielleicht ist das der Grund, aus dem es Ihre Musik live geben muss, damit Sie und tausende Ihrer Anhänger gleichzeitig feiern können, dass Überzeugungen und Klänge wie Ihre, die gerade in Krisenzeiten auch in die Ukraine und den Iran blicken und damit Farbe bekennen nicht obsolet geworden sind, oder täusche ich mich?
von Deylen: Politische Korrektheit als Plädoyer für weltpolitische Verblindung zu missbrauchen, wird inzwischen ja fast schon kultiviert - auch, weil es einfache, bequeme Lösungen liefert. Ich stand und stehe immer wieder vor einem Labyrinth, von dem ich nicht weiß, ob ich den Ausgang jemals wieder finden werde, während mich das Wissen trägt, dass viele von der Existenz dieses Labyrinths verschont bleiben werden. Nur, indem ich mir immer wieder verdeutlicht habe: dass, was ich auf diesem Planeten hören, sehen und fühlen möchte, auf jeden Fall nicht eintreten wird, wenn ich stehen bleibe, hatte ich die Kraft, trotz aller Bedenken und Ängste weiterzugehen. Dass ich für diese gefühlte Notwendigkeit von so vielen Menschen mit Liebe überhäuft werde, habe ich nie ganz realisieren können, auch, wenn es mich mit einer tiefen Dankbarkeit erfüllt, die ich auch in Mannheim mit all der Energie zurückbezahlen möchte, die sie mir beschert hat.
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