Literatur

Ursula Krechel: Mütter und Söhne im Fokus

In ihrem neuen Roman verwebt Ursula Krechel drei Frauenbiografien zu einem poetischen Werk über Mutter-Sohn-Beziehungen, Gewalt und gesellschaftliche Rollenbilder.

Von 
Peter Mohr
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Ursula Krechel. © Bild dpa

Ursula Krechel setzt sich in ihrem neuen Roman anhand von drei höchst unterschiedlichen Frauenbiografien mit den teilweise abgründigen Beziehungen von Söhnen zu ihren Müttern auseinander. Eine Justizministerin, eine mittellose Kräuter-Verkäuferin und eine ambitionierte Lateinlehrerin stehen im Zentrum. Und dann gibt es noch einen jungen Stalker, der gewalttätig wird.

Die 77-jährige Ursula Krechel, die 1971 mit einer Arbeit über den Dramaturgen und Regisseur Herbert Ihering promovierte, war in ihrer langen literarischen Laufbahn auch als Lyrikerin äußerst erfolgreich. Dies merkt man diesem hochpoetischen Roman in jeder Zeile an. Hier scheint jedes Wort wohlbedacht und wohlplatziert zu sein. 2012 war Krechel für ihren Roman „Landgericht“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet worden.

Ich-Erzählerin ist jetzt die ehrgeizige Lateinlehrerin Silke Aschauer. Eine sensible und hoch gebildete Frau, die durch extrem starke Regelblutungen körperlich stark beeinträchtigt ist. Sie liest mit ihrem Lateinleistungskurs nicht nur Tacitus, sondern inspiriert ihre Eleven auch dazu, die römische Geschichte gegen den Strich zu interpretieren. Die folgenschwere Beziehung Agrippinas zu Sohn Nero, der seine Mutter ermorden ließ, hat es ihr angetan. „Ein Sohn ist immer ein Risikofaktor“, so lautet die Quintessenz aus dem reizvollen Ausflug in die Geschichte.

Die zweite Protagonistin Eva Paterak verkauft sündhaft teure und mit aggressiver Werbung angepriesene Bio-Kräuterprodukte, die sie sich selbst nicht leisten kann. Ihren inzwischen erwachsenen Sohn Philipp hat sie alleine großgezogen. Sein Studium hat er zum Leidwesen der Mutter „geschmissen“ und hängt die meiste Zeit des Tages vor seinem Computer und hat längst die Flucht ins virtuelle Nirwana angetreten. „Es hat mich ihre Normalität interessiert“, erklärte Ursula Krechel über die gleichermaßen macht- wie mittellose Frau.

Vom blutgetränkten Lebensweg der machtbesessenen Agrippina

In einer völlig anderen Welt lebt die Ministerin. Krechel porträtiert Repräsentantinnen unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus, einzig verbunden durch das Frausein in einer patriarchalen Lebenswelt und ihre Erfahrungen mit physischer und psychischer Gewalt. Krechel setzt eine hochartifizielle verbindende Klammer vom blutgetränkten Lebensweg der machtbesessenen Agrippina bis hin zur zunehmenden Radikalisierung im Alltag der Gegenwart. Dies ist kompositorisch perfekt gelungen. Man folgt der Autorin bereitwillig durch die Jahrhunderte.

„Die Frauen stehen für verschiedene Haltungen zur Realität und die Auseinandersetzung mit Gewalt,“ erklärte Krechel kürzlich in einem SWR-Interview. Die Ministerin erhält zunächst anonyme Briefe und wird später vor ihrem Haus Opfer einer Messerattacke. „Der Staatsanwalt verliest die Anklageschrift. Ich mache von meinem Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch.“ Mit diesen Worten lässt die Autorin den Roman enden. Was dies alles mit dem jungen Stalker zu tun hat? Einfach lesen und selbst entdecken.

Freier Autor seit rund 20 Jahren als Autor fürs Feuilleton tätig. Schwerpunkt: Literaturkritik

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