Literatur

Patrick Modiano schreibt über das Geheimnis des Erinnerns

Erstmals auf Deutsch erschienen: In „Memory Lane“ nimmt Nobelpreisträger Patrick Modiano seine Leserschaft mit in die Welt der Pariser Bohème der Nachkriegszeit

Von 
Ulrich Rüdenauer
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Erhielt 2014 den Literaturnobelpreis: Patrick Modiano. © Federic Dugit/dpa

Der Refrain des etwas pathetischen Liedes „Memory Lane“ geht so: „Memory Lane / Nur einmal traben Pferde die Memory Lane hinunter, / die Spuren ihrer Hufe jedoch bleiben für immer …“ In diesen schlagerhaften Zeilen – der junge Patrick Modiano hat übrigens Chanson-Texte für die verstorbene Sängerin Françoise Hardy verfasst – verbergen sich das Geheimnis des Erinnerns und die Poetologie des französischen Nobelpreisträgers: Die Spuren von Begegnungen und Ereignissen mögen verwischen, aber da sind sie gleichwohl.

Frühwerk nun erstmals auf Deutsch erschienen

Manchmal genügt eine unscheinbare Gefühlsregung, um das Verlangen zu wecken, ihnen nachzugehen, ihnen zurück in eine andere Zeit zu folgen, zurück in die Jugend. Das hat etwas Detektivisches, und auch wieder nicht. Denn bei Modiano werden keine Fälle gelöst. Im Gegenteil: Das Mysterium des Verschwundenen, der Toten oder eines längst nicht mehr existierenden Paris wird nur immer größer, niemals jedoch zu den Akten gelegt.

„Memory Lane“ also. Das Lied wird im Buch zur gemeinsamen Hymne einer Gruppe von mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelten Menschen. Patrick Modianos Erzählung „Memory Lane“ wurde 1979 geschrieben und kam 1981 erstmals zusammen mit Schwarz-Weiß-Illustrationen des seinerzeit bekannten Zeichners und Grafikers Pierre Le-Tan heraus. Die kongeniale Übersetzerin Elisabeth Edl hat sie nun das erste Mal ins Deutsche gebracht. Modianos Erzähler erinnert sich 15 Jahre nach einem intensiven Sommer an das „Grüppchen“, das sich um das mondäne, längst aber am Abgrund des Ruins stehende Paar Paul und Maddy Contour schart: „Paul Contour: sein Leichtsinn, aber auch sein Gesicht, das mir zerfurcht schien in der Sonne von Antibes. Maddy: sie hielt besser stand, dank ihrer schön geschwungenen Brauen, ihrer Augen, in denen Fjorde aufblitzten, und ihres Lächelns. Bourdon: er trug oft eine Seglermütze, hatte seine Pfeife im Mund, und es ging einem zu Herzen, dass er aussehen wollte wie ein Südseekapitän.“

Dazu kommen Bourdons Kindheitsfreund Winegrain mit seinem leeren Blick und dessen Freundin Françoise, schüchtern und ihrem Liebhaber hoffnungslos ergeben. Da ist der alte Antiquitätenhändler Claude Delval. Und der Amerikaner Doug „mit dem roten, pockennarbigen Gesicht“, der immerzu „Memory Lane“ vor sich hinsingt. Der Krieg ist noch nicht lange vorbei, das Leben muss in vollen Zügen genossen werden, aber es ist ein Vergnügen auf Kredit – hinter der Fassade entdeckt man eine Müdigkeit und Melancholie.

Das Alter nagt an diesen Überlebenden und sich überlebt Habenden. Der Erzähler, jung und neugierig, ist unversehens in das Grüppchen hineingeraten, und er wird – wie auch Françoise – weiterziehen. Aber doch bleibt etwas aus dieser Zeit bewahrt, ein elegisches Sentiment, auch eine ungelebte Liebe zu Maddy. Erinnerung ist ohne Wehmut nicht zu haben.

Mit welcher unaufdringlich simplen Eleganz und in welch schwebend-dämmriger Stimmung das erzählt wird, ist wie immer bei Patrick Modiano betörend und schmerzhaft zugleich. Je stärker das Vergangene sich in die Gegenwart schiebt, desto deutlicher spürbar nämlich wird die Vergänglichkeit.

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