Mit seinem jüngsten Buch „Das Philosophenschiff“ hat der Österreicher Michael Köhlmeier einen dichten, gehaltreichen Roman vorgelegt (wir berichteten). Geistreich und ironisch kombiniert er darin Fakten und Fiktionen. Im Mittelpunkt steht eine wahrhafte, aber fiktive Jahrhundertgestalt: die 100-jährige Architektin Anouk Perleman-Jacob. Ihr begegnet der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, und sie bittet ihn, den Teil ihrer Biografie zu schreiben, der noch unbekannt sei. Doch dies erfolgt unter einer kuriosen Voraussetzung. Wenn ihm, der mit seinem Spiel mit Fakten und Fiktionen „Leser hinters Licht“ führe, keiner glaube, sei das umso besser, meint sie.
Doppelbödig ist diese Erzählung und entfaltet ein schier unglaubliches Geschehen. Anouk erlebt mit ihren Eltern die Zeit nach der Oktoberrevolution in Sankt Petersburg. Sie erfährt, wie das Klima ständiger Verdächtigung alle zermürbt. Infolge der mangelhaften Versorgungslage verhungern Unzählige, und in der Schicht der Gebildeten finden die Bolschewisten bald einen angeblichen Klassenfeind, auf den sich das allseitige Misstrauen richten soll. Besonders Lyrik gilt als verdächtig.
Die Mechanismen der Revolution werden offengelegt
Um eine langfristige „Säuberung“ Sowjetrusslands zu erreichen, ersinnt Lenin die Aktion „Philosophenschiff“. Unter diesem Namen wurden tatsächlich im Herbst 1922 Intellektuelle zu Hunderten über See außer Landes gebracht. Darunter seien auch sie und ihre Eltern gewesen, berichtet Anouk. Schon auf hoher See hält ihr Schiff noch einmal an, um einen weiteren Fahrgast an Bord zu bringen. Es sei der todkranke Lenin selbst gewesen, sagt sie, für den die Mechanismen der Revolution keine Verwendung mehr hatten.
Wie totalitäre Regime wirken und erlebt werden, haben in jüngerer Zeit noch andere Romane nachvollziehbar gemacht: Den stalinistischen Terror schilderten Julian Barnes in „Der Lärm der Zeit“ (2017) oder auch Eugen Ruge in „Metropol“ (2019). Sie auf heutige Zustände im ehemaligen Stammland des Sowjetsystems zu beziehen, legten sie weniger nahe als jetzt Köhlmeier, denn dessen Roman, in dem Stalin am Ende auch noch einen Auftritt hat, erscheint zu einer Zeit, da Russland wieder Krieg führt gegen eine angebliche nazistische und imperialistische Bedrohung, als welche die Ukraine ausgemalt wurde, und Stalin erneut verehrt wird.
Literarische Sichtweisen des Totalitarismus
- Der Roman „Das Philosophenschiff“ von Michael Köhlmeier ist bei Hanser erschienen, „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes ist als Taschenbuch im BTB-Verlag erhältlich. Eugen Ruges Roman „Metropol“ erschien bei Rowohlt und ist auch als rororo-Taschenbuch verfügbar.
- Der Schriftsteller Michail Bulgakow (1891-1940) war ukrainischer Herkunft. Er gilt als ein großer Satiriker der russischen Literatur.
- Der Roman „Der Meister und Margarita“ ist Bulgakows Hauptwerk. Er arbeitete Jahrzehnte daran und schrieb mehrere Fassungen. Das Buch liegt auf Deutsch in verschiedenen Übersetzungen vor, erschienen unter anderem bei dtv und im Reclam-Verlag.
Folgerichtig wäre es, gleich auch den literarischen Klassiker zur Hand zu nehmen, der eine Abrechnung mit Stalinismus und überhaupt Totalitarismus ist und dazu noch eine fantastische Satire: Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“. Der Roman erschien in Millionenauflage und ist zumal in Russland selbst das erfolgreichste Buch des 20. Jahrhunderts. Und wie um die Ironie auf die Spitze zu treiben, war eine noch vor Beginn der unseligen Militäraktion in der Ukraine genehmigte Verfilmung des Romans Anfang 2024 ein enormer Erfolg in russischen Kinos.
Bulgakow (1891-1940) arbeitete seit 1928 an dem Buch, das erst in den 1970ern vollständig erscheinen konnte. Er schrieb mehrere Fassungen und verarbeitete einen bekannten weltliterarischen Stoff: Vielfach, angefangen im vorangestellten Motto, verweist er auf Goethes „Faust“-Drama, auf den Teufelspakt und die Gestalt des Mephisto, und variiert all dieses, das ihm nicht nur literarisch präsent war, sondern auch durch musikalische Vermittlung geläufig - durch Charles Gounods „Faust“-Oper, von der er vierzig Vorstellungen sah, und Hector Berlioz‘ Komposition „Le Damnation de Faust“.
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Einen anderen Komponistennamen, Strawinski, entlieh sich Bulgakow für eine wichtige Figur seines Buches, die des Direktors einer psychiatrischen Klinik, in der mehrere der Beteiligten zwischenzeitig leben. Vom Tonsetzer Berlioz entlehnte er den Namen des Charakters, dessen Schicksal die überdrehte Handlung in Schwung bringt. Ein Literaturredakteur namens Michail Berlioz, zugleich Vorsitzender des Moskauer Schriftstellerverbandes MassLit, findet den von einem merkwürdigen Zeitgenossen prophezeiten Unfalltod, als er gerade mit einem jungen Lyriker spazieren geht und dabei auf eben den merkwürdigen Professor Woland trifft.
Dieser Woland gibt sich als Experte auf dem Gebiet der schwarzen Magie aus, ist in Wahrheit aber der teuflische Mephisto, der auch künftige Tode vorauszusagen vermag. Die Faust-Figur hieß auch bei Bulgakow zu Anfang so, in späteren Fassungen trägt sie den Namen Meister. Dieser Meister ist ebenfalls Literat - und Autor eines historischen Romans über Pontius Pilatus, der außer von ihm auch von Woland mehrfach so zitiert wird, als ob eben Woland Urheber des Buches sei. In die Psychiatrie kam Meister durch die Mitwirkung staatstreuer Kritiker, die an seiner Buchidee kein gutes Haar ließen.
Begeistert von dieser war jedoch seine Geliebte Margarita, hinter der sich Fausts Gretchen verbirgt; sie sucht die Nähe Wolands und wird zeitweilig zur Hexe, um ihren Meister schließlich wieder im „normalen“ Leben in die Arme schließen zu können - ein glücklicher Umstand, von dem viele andere in Diktaturen Verschwundene nur träumen konnten und können.
Immerzu stellt sich die Frage: Was ist schon normal?
Was ist hier schon normal? Sind es die Zustände, in denen nicht nur Literaten in die Psychiatrie gelangen? -neben Meister auch der Lyriker Iwan Ponyrjow, dessen Pseudonym Besdomny („Ohnehaus“, also Obdachloser) lautet. Der war mit Berlioz zusammen, als dieser Opfer einer Straßenbahn wurde. Aber sage keiner, die Psychiatrie könne nicht von Nutzen sein: Iwan erkennt dort, dass seine Gedichte schlecht waren und schreibt fortan keine mehr.
Was ist normal? Ist es die real existierende Wohnungsnot der Zeit in Moskau? Ist es das Denunziantentum, der Hunger nach Devisen und Luxus, der hier Bürgerinnen und Bürger heimsucht und Opfer fordert? Oder ist es die überbordende sowjetrussische Bürokratie? Sicher ist eins: Wer all das deutlich macht, das ist Woland, dem drei willige Helfer zur Seite stehen. Und natürlich ist Woland ein zwiespältiger Charakter: Er macht unselige Zustände ebenso transparent, wie er zugleich als ein Urheber derselben gelten muss, mithin selbst als ein totalitärer Herrscher, der sich die Wirklichkeit nach eigenem Gutdünken auslegt.
In seinem Detailreichtum kaum zu überblicken
Hauptort der Handlung ist übrigens die Wohnung 50 in der Straße Sadowaja 302a, in der auch Bulgakow zeitweilig lebte. MassLit-Vorstand Berlioz bewohnte dort zwei Zimmer, ebenso der Varieté-Direktor Lichodejew. In dessen Etablissement zaubert Woland mit seinen Gehilfen viel Bargeld und zahlreiche Luxusgüter herbei. „Des Satans großer Ball“, so der Titel des entsprechenden fantastischen Kapitels, findet indessen in einem Raum der Wohnung 50 statt.
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In seiner Finesse, seiner vielseitigen Verschränkung und in seinem Detailreichtum ist Bulgakows Roman kaum zu überblicken. Kein Zweifel, dass in ihm die freie Fantasie sich selbst feiert. Ihr und ihrer Souveränität unterliegt alles. Und so ist es eben die literarische Fantasie, die hier der eigentliche Meister über die Wirklichkeit ist. Ihr gegenüber sind auch totalitäre Herrscher nur lachhaft und sind nur die komische eine Seite einer diabolischen Macht.
In „Meister und Margarita“ feiert sich die Literatur selbst. Sie gewinnt in der satirischen Übertreibung ihre höchste Freiheit und entlarvt den früheren wie heutigen Realitätsverlust von so vielen. Eine anarchische Fantasie ist der größte Feind alles Diktatorischen, sie feiert ihren Sieg in unbändigem Lachen und einer Komik, der Michail Bulgakow hier unbedingt verpflichtet bleibt.
Natürliche Erklärungen werden freilich auch geliefert; so meinen Ermittler, die Folgen der Varieté-Vorstellung Wolands, das buchstäblich ver-rückte Verhalten der Besucher, sei durch massenhafte Hypnose zu begründen. Und wer weiß? Vielleicht ist Hypnose ja auch eine gute Begründung für das verbreitete angepasste, duckmäuserische Verhalten in Gewaltherrschaften.
Was der Autor in seinem Buch aufbietet, reicht aus, um auch heutige Leser noch nachdrücklich in Staunen zu versetzen. Schließlich wird am besten und originellsten zu der Zeit von bestimmten Umständen erzählt, in der diese unmittelbar vorherrschen. Dass der zum Vorschein kommende Humor dann ziemlich schwarz ausfällt, liegt schlicht in der Natur der Sache.
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