Margaret Atwood ist eine Meisterin der Short Story. Ihr letzter Kurzgeschichten-Band erschien vor zehn Jahren. Ihr jüngster enthält gleich mehrere Bücher: Es gibt da einen langen, zweiteiligen Zyklus mit Texten um das Paar „Tig und Nell“ – und dazwischen stehen acht bunt zusammengewürfelte Erzählungen, die weder formal noch inhaltlich viel miteinander verbindet.
Die gesamte Bandbreite von Atwoods Werk ist in „Hier kommen wir nicht lebend raus“ abgedeckt: dem Realismus verpflichtete Texte, Science-Fiction (Atwood spricht lieber von „spekulativem Schreiben“), eine postapokalyptische Miniatur, ein Plausch mit George Orwell, eine Lockdown-Episode, eine Kafka-Paraphrase. Es geht um Identität und Feminismus, um die Krisen der Gegenwart und die allgegenwärtige Vergangenheit.
Der Titel deutet an, was sich als Leitmotiv durch viele der Short Storys schlängelt: Wie lässt sich das Leben angesichts der eigenen Vergänglichkeit und des Verlusts von geliebten Menschen ertragen? Wie geht man als älter werdender Mensch damit um, dass die Reflexionen über das Vergangene so viel mehr Raum einnehmen als jene über das Jetzt oder gar die Zukunft.
Nell und Tig als älteres und innig verbundenes Paar
Am beeindruckendsten sind die Geschichten um Nell und Tig, eines älteren, innig verbundenen Paars. In der ersten Story erinnert sich Nell an einen Erste-Hilfe-Kurs und an den kauzigen Rettungssanitäter Mr. Foote. Der Kurs setzte Gedanken an „lebensbedrohliche Erlebnisse“ in Gang, eine ironische Bestandsaufnahme des gemeinsamen Lebens, das ziemlich glimpflich und glücklich verlaufen ist. Nell kommt dabei ein Satz in den Sinn, den Tig immer wieder geäußert hat: „Hier kommen wir nicht lebend raus“. Ein Witz, der dabei hilft, mit seiner gar nicht so witzigen Pointe zurecht zu kommen. Atwood erzeugt immer wieder kleine Momente, in denen man trotz aller Schrecklichkeiten Luft holen und Trost finden kann. Selbst als Nell nach dem Tod Tigs tatsächlich alleine ist. Sie spricht mit ihm, er spricht zu ihr, und manchmal scheint er ihr Nachrichten zukommen zu lassen – in Form von Zetteln, die er irgendwann geschrieben hat und die irgendwo auftauchen. „Es ist eine Botschaft, die Tig für sie hinterlegt hat. Magisches Denken, das weiß Nell genau, aber sie gönnt es sich trotzdem, weil es tröstend ist. (…) Was macht man mit diesen kryptischen Botschaften der Toten?“
Mit den Toten ist es eine merkwürdige Sache: Obwohl verschwunden, beanspruchen sie Zeit und Raum. Margaret Atwood hat ein genaues Gespür für Fragen, Zweifel und Wunderlichkeiten. Sie ist unsentimental und manchmal ironisch, aber das erzeugt eine noch größere Nähe zu den Trauernden, zu Nell, den anderen älteren Frauen und Witwen in diesen Texten. Ihr bewegendes Buch ist unter anderem Graeme Gibson gewidmet, dem Schriftsteller und Ornithologen, mit dem Atwood 45 Jahre lang verheiratet war und der vor fünf Jahren starb. Es wäre keine unangemessene Vermutung, dass sie ihn in der Figur Tig und sich in Nell porträtiert hat.
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