Literatur

Der Beschiss des Lebens: Péter Nádas' "Schauergeschichten"

Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas wird am 14. Oktober 80 Jahre alt - und überrascht mit seinem neuen Roman „Schauergeschichten“. Im Mittelpunkt stehen ein fiktives ungarisches Dorf und seine Bewohner

Von 
Hans-Dieter Fronz
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Lebt meist zurückgezogen in einem ungarischen Dorf: Péter Nádas. © Doris Poklekowski

In seinen Memoiren, dem 1280 Seiten starken Band „Aufleuchtende Details“ schrieb Péter Nádas: „Ich bin im jüdischen Krankenhaus von Budapest an dem Tag geboren, als die jüdischen Einwohner des frisch besetzten polnischen Mizoc in eine nahe gelegene Steinmine getrieben wurden. Mehreren Tausend Menschen wurde an diesem Mittwochvormittag geheißen, sich nackt auszuziehen, dann wurden sie hingerichtet. Alle. Es geschah am 14. Oktober 1942. Vergebens denke ich darüber nach, ich werde nie verstehen können, dass es gleichzeitig geschehen ist.“

Womöglich war und ist der Holocaust für Nádas ein innerster Antrieb zum Schreiben. Ganz gewiss aber ist das Zitat nicht zuletzt Ausfluss seiner universalistischen Haltung als Autor: des Strebens, Zusammenhänge zu erkennen und Gleichzeitigkeiten zumindest wahrzunehmen, sie nicht auszublenden. Alles nimmt Nádas in den Blick, nichts ist für ihn so geringfügig, dass er es vernachlässigte. Bekannt wurde Nádas mit voluminösen Romanen wie „Das Buch der Erinnerung“ und die „Parallelgeschichten“. Der Erzähler, Dramatiker und Essayist feiert heute seinen 80. Geburtstag.

Ein Sprechen nach innen

Nádas, der einer jüdischen Familie entstammte und zunächst als Journalist und künstlerischer Fotograf arbeitete, hatte als Romanautor und Erzähler zeitweilig Publikationsverbot. Heute lebt er in Budapest und Gombosszeg, einem winzigen Dorf im Westen Ungarns. Nádas ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Ihr vertraute er vor kurzem sein künstlerisches Archiv mit tausenden Fotografien an. Vom 16. Oktober an soll es zugänglich sein.

Neben dem schmalen Band „Schreiben als Beruf“ erschien zu Nádas’ Jubiläum vor wenigen Tagen sein neuer Roman „Schauergeschichten“ in deutscher Übersetzung; für die Verhältnisse dieses Autors ist er mit seinen 720 Seiten geradezu ein Leichtgewicht. Umso gewichtiger ist der Band in seinem dichterischen Gehalt. Das Buch führt in den Kosmos einer dörflichen Welt, wie sie Nádas aus unmittelbarer Anschauung kennt. Erstaunlich, dass der Roman diese Welt weniger erzählerisch in der dritten Person vergegenwärtigt. Die auktoriale Erzählweise wechselt sich vielmehr beständig mit dem stream of consciousness des Romanpersonals ab.

Autor und Werk

  • Péter Nádas wurde am 14. Oktober 1942 in Budapest in eine begüterte jüdische Familie geboren, die dem ungarischen Nachkriegskommunismus gegenüber zunächst aufgeschlossen war.
  • Nádas geriet bei seiner Tätigkeit als Journalist und künstlerischer Fotograf mit dem kommunistischen Regime in Konflikt und hatte Publikationsverbot als Romanautor und Erzähler.
  • Sein erster Roman „Ende eines Familienromans“ erschien erst nach sieben Jahren 1977.
  • Nádas, der sich durch Romane wie „Das Buch der Erinnerung“ und die 1700 Seiten umfassenden „Parallelgeschichten“ einen Namen gemacht hat, gilt seit längerem als Nobelpreiskandidat.
  • Sein neuer Roman „Schauergeschichten“ ist im Rowohlt Verlag erschienen.

So mancher Leser, der Nádas seiner kultivierten Sprache wegen in die große ungarische Erzähltradition von Sandor Marai bis Imre Kertesz und darüber hinaus einreiht, dürfte Schwierigkeiten haben, sich in die Sprache des Romans und die archaische bäuerliche Denkweise der Figuren zu finden – nicht nur angesichts einer Flut derber Flüche und Verwünschungen. Stellenweise ist man versucht, von einer dumpfen Kollektivseele des Dorfs zu sprechen, auch wenn einzelne Mitglieder der Dorfgemeinschaft heillos zerstritten sind und sich Figuren wie Pfarrer und Lehrer der Gemeinde gegen sie abgrenzen. Das „Wir“ des Romans entpuppt sich so als anonyme Enzyklopädie von Gerüchten und grundlosen Meinungen, Vorurteilen und geistigen Beschränktheiten der Dorfgemeinschaft.

Individuelle Stimmen leiht das Buch hauptsächlich Figuren am Rande oder außerhalb des informellen „Dorfkollektivums“. Etwa Teres, die als gefallenes Mädchen aus der Stadt zurückgekehrt war und verjagt wurde, um nach Jahrzehnten wiederzukehren und sich eine kleine Existenz als Weinbäuerin aufzubauen. Als „Hexe“ und „Hure“ stigmatisiert, erlebt sie den Respekt der Tagelöhnerin Rosi, die mit ihr im Weinberg arbeitet, als wohltuend. Auch auf Rosi, die Hilfsschülerin, blicken die Dörfler herab. Spottgedichte kursieren über sie; verdächtig macht sie schon ihre Fallsucht. Nicht gesellschaftsfähig ist zudem die kleinwüchsige Amália. Nach allgemeiner Ansicht wurde Imre – der Sohn des „Zwergleins“ – im Plumpsklo hinter der Schänke, in der sie arbeitet, gezeugt. Dort, in der Außentoilette, empfängt sie ihre Freier.

Ein Karussell der Katastrophen

Imre seinerseits ist sozial deklassiert – ein Außenseiter und als junger Mann in seiner seelischen und sozialen Entwicklung hoffnungslos zurückgeblieben. Piroschka, die höhere Tochter, die in Budapest studiert, verliebt sich in ihn – und schaudert zurück vor seiner inneren Verwahrlosung.

„Siehst du, so bescheißt uns das Leben“, sagt Teres einmal zu Rosi. Als Grundstimmung der Menschen ist dieser Beschiss des Lebens in dem Buch allgegenwärtig. Gegen Schluss des eindringlichen Romans, der einen drastischen Naturalismus eigentümlich mit Passagen höchst kultivierten Erzählens verbindet, entlädt sich die innere Spannung dieser dörflichen Welt in einem irrwitzigen Karussell individueller Katastrophen.

Freier Autor

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