Ihren Kompass hat sie verloren, sagt die Protagonistin von „The Outrun“. Ein Geschenk ihres Papas, das sie an einer Kette um den Hals getragen hat. Frauen beziehungsweise Mädchen, die ihre Orientierung verloren haben, dafür interessiert sich Nora Fingscheidt, wie verschiedene weibliche Charaktere aus ihren vorherigen Filmen zeigen. Ein Kind im rosa Anorak war’s bei „Systemsprenger“, Helena Zengel spielte eine Neunjährige, die mit unkontrollierten Wutausbrüchen ihre Umwelt zur Verzweiflung bringt. Den Boden unter den Füßen hat Sandra Bullock in „The Unforgivable“ als Ruth Slater verloren. Zwanzig Jahre hat sie wegen der Ermordung eines Sheriffs im Gefängnis verbracht, nach ihrer Entlassung versucht sie, wieder Teil der Gesellschaft zu werden.
Ein Drama über die mühevolle Rückkehr in die Realität
Ebenfalls eine Ausgestoßene, ein irritierender Fremdkörper, ist Rona (Saoirse Ronan) in „The Outrun“. Jahrelang hat sie sich in London in Pubs und Bars herumgetrieben. Getrunken, besser: gesoffen, nonstop Party gemacht. Bis niemand mehr etwas mit ihr zu tun haben wollte, ihr überforderter Freund (Paapa Essiedu) sie verlassen hat. Jetzt will sie trocken werden, nüchtern, obwohl sie davon überzeugt ist, dass sie das nicht glücklich machen wird. In ihre alte schottische Heimat, hoch oben im Norden, auf die Orkney Inseln, kehrt sie zurück, um zu sich zu finden.
Von ihren Eltern kann sie keine Hilfe erwarten. Das Ex-Paar lebt getrennt. Die religiöse Mutter (Saskia Reeves) ist überzeugt, dass die Hinwendung zu Gott und viel Beten eine Lösung für die Trunksucht wäre. Der Vater (Stephen Dillane) hat eigene Probleme. Der bipolare Mann haust, nachdem er seine Farm verkaufen musste, in einem kleinen Wohnwagen, hält sich mit seiner Schafzucht gerade so über Wasser. Keine idealen Voraussetzungen für einen Neuanfang inmitten von (fast) nichts. Nur Meer, Himmel und Erde. Tiere und bodenständige, schweigsame Menschen. Dazu beständig Wind. Tosend, säuselnd – gleich den Gemütslagen der (Anti-)Heldin...
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Auf den gleichnamigen autobiografischen Bestseller-Erinnerungen der Journalistin Amy Liptrot, hierzulande 2016 unter dem Titel „Nachtlichter“ erschienen, fußte das von Fingscheidt, Liptrot und Daisy Lewis („Downton Abbey“) verfasste Skript. Die bereits für vier Oscars nominierte Hauptdarstellerin war von dem Buch so begeistert, dass sie sich gleich nach der Lektüre auf die Suche nach Partnerinnen und Partnern für eine Leinwandadaption machte und – mit sich selbst als einer der Produzentinnen und Produzenten – in der international gefragten deutschen Regisseurin eine ideale Partnerin fand.
Filmstil spiegelt Unordnung der Alkoholsucht
Ein Trinkerdrama wie Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ mit Mads Mikkelsen oder Billy Wilders „Das verlorene Wochenende“ mit Jack Lemmon. Ein Drama über die Abkehr vom Alkohol, die mühevolle Rückkehr in die Realität. Wie ein trockener Alkoholiker anmerkt: „Einfach wird es nie. Es wird nur weniger schwer.“ Wüst sieht es in Ronas Apartment aus, wild verstreut liegen Dinge umher, leere Teller, Verpackungen, dazwischen Scherben. Die Dinge müssen wieder an ihren Platz, Ordnung muss und soll dem Chaos weichen. Entsprechend „unaufgeräumt“ ist der Film zunächst.
Puzzleteile nur. Impressionen. Momentaufnahmen. Malerische Naturaufnahmen, perfekt eingefangen vom in Sachen Dokumentationen versierten Kameramann Yunus Roy Imer („Dreaming Dogs“). Robben, die aus dem Meer auftauchen. Historische Schwarz-Weiß-Bilder, eine kurze animierte Sequenz. Verwegen wird durch die Zeitebenen gewechselt. Zurück in Ronas Kindheit geht es. Dann in die Themse-Metropole und zurück auf die Orkneys. Derweil Rona ihre Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle pausenlos aus dem Off kommentiert, sich langsam erdet, für eine Vogelschutzorganisation auf die Suche nach den seltenen Wachtelkönigen macht.
Hauptdarstellerin Saoirse Ronan zieht alle Register ihre Könnens
Das Protokoll einer Veränderung, optisch klug festgemacht an den Haaren beziehungsweise der Haarfarbe Ronas, die Ronan („Maria Stuart, Königin von Schottland“) perfekt verkörpert. Mal kurz, mal lang, erst Rosa, dann Blau, schließlich Orange. Die irisch-amerikanische Darstellerin zieht alle Register ihres Könnens. Ob schwer betrunken, wenn sie nach der Sperrstunde in einer Kneipe die Alkoholreste in herumstehenden Flaschen und Gläsern gierig austrinkt, den Wirt wüst beschimpft, an ihrem Kater leidet oder zur Kopfhörermusik wild tanzt. Eine One-Woman-Show.
Ein Film wie der (Dauer-)Rausch, von dem er erzählt. Erinnerungen an die Selbstspiegelungen von Jack London und Hans Fallada in „König Alkohol“ respektive „Der Trinker“ werden wach. Agonie und Ekstase. Und Läuterung. Auch ein Werk über Hoffnung und Wiederbeginn.
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