Es gibt Regisseure, deren Arbeiten man sich bedenkenlos ansehen kann. Zu ihnen zählt Alfred Hitchcock, der Meister des Suspense. Aber auch Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Luchino Visconti, François Truffaut und Rainer Werner Fassbinder. Ihre Filme kann man lieben oder hassen – unberührt lassen sie einen nie. Und beste Unterhaltung ist obendrein garantiert.
Dieser Gruppe der Ausnahmekönner zuzurechnen ist auch Jacques Audiard, der immer wieder zu überraschen versteht. Von Beginn an im Mittelpunkt seines Schaffens stehen schicksalhafte Begegnungen, die den Verlauf des Lebens für immer verändern. Die Figuren des 1953 in Paris geborenen Filmemachers, Sohn des berühmten Regisseurs und Drehbuchautors Michel Audiard („Lautlos wie die Nacht“), sind Systemverlierer, Einzelgänger, Opfer privater und politischer Umwälzungen. Wie etwa sein Kleinkrimineller Malik und der Unterweltsboss César in „Ein Prophet“, die körperlich versehrte Waltrainerin Stéphanie und der Herumtreiber Ali in „Der Geschmack von Rost und Knochen“ oder die Studentin Nora und das Cam-Girl Amber Sweet in „Wo in Paris die Sonne aufgeht“. Bereits im letztgenannten Drama unternahm Audiard den Versuch, die Sprache des Begehrens und der Liebe neu für die Leinwand zu definieren. Wie nun auch in seinem queeren Gattungsmix „Emilia Pérez“, der auf dem Filmfestival von Cannes für Furore sorgte.
Zoe Saldaña
- Zoe Saldaña ist dem breiten Publikum seit ihrem computer-animierten Auftritt als Neytiri in James Camerons Mega-Hit „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ (2009) bekannt.
- Erste Auftritte absolvierte sie auf Theaterbühnen in New York, 1999 debütierte sie im Fernsehen in der Serie „Law & Order“.
- 2000 übertrug ihr Nicholas Hytner die Hauptrolle im Tanzfilm „Center Stage“. Es folgten Parts in „Terminal“, „8 Blickwinkel“, den drei „Guardians of the Galaxy“-Abenteuern sowie „Avengers: Infinity War“ und „Avengers: Endgame“.
- Zuletzt war Zoe Saldaña, die seit 2018 einen Stern auf dem „Walk of Fame“ hat, in „Amsterdam“ und der „Avatar“-Fortsetzung „The Way of Water“ zu sehen.
Zunächst lernt man die Anwältin Rita (Zoe Saldaña) kennen. Sie ist Angestellte einer großen Kanzlei, überqualifiziert, unterbezahlt. Ihrem Geschick verdanken Drogendealer, Mörder und andere Schwerverbrecher die Freiheit – zur Freude ihres korrupten Chefs, der sich für seine Dienste fürstlich entlohnen lässt. Eines Tages bietet sich ihr ein Ausweg, eine Chance für ein selbstbestimmtes Leben: Der Kartellboss Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón) will mit ihrer Hilfe sein kriminelles Umfeld verlassen, aussteigen, ein braver Bürger werden.
Was unwahrscheinlich klingt, funktioniert auf bizarre Weise
Rita soll ihm ermöglichen, einen Schlussstrich unter sein zweifelhaftes Lebenswerk zu ziehen. Und ihm ein neues Dasein für sich, seine Frau Jessi (Selena Gomez) und die Kinder organisieren. Dazu gilt es einen Plan umsetzen, den er seit Jahren im Geheimen vorbereitet hat: Er will sich mit ärztlicher Hilfe in die Frau verwandeln, die er tief im Inneren schon immer war: Señora Pérez, Vorname Emilia. Doch seine Vergangenheit ist eine Geschichte, die ihren ganz eigenen Regeln folgt, die unabdingbar wiederkehrt und sich mit aller Härte rächt.
Eine verwegene, mutige Prämisse. Ein brandaktueller Stoff. Ein von Musik getriebener Neo-Noir-Kriminalfilm mit einer Transperson als Held beziehungsweise Heldin. Das Ganze klingt denkbar unwahrscheinlich, funktioniert aber auf bizarre, wilde und bewegende Weise. Getragen von Multitalent Saldaña und der mexikanischen Transgender-Darstellerin Gascón, die beide an der Côte d’Azur gemeinsam mit Gomez und Adriana Paz als Epifania für ihre Ensemble-Leistung ausgezeichnet wurden.
Der mit dem Jury-Preis belohnte Audiard sperrt sich gängigen Kinomustern und -formeln. Das beginnt damit, dass er das Genre Musical neu denkt, die vorzüglichen Songs von Popstar Camille und ihrem Partner Clément Ducol – das Duo verantwortet obendrein die Originalmusik – mal mehr, mal weniger lang an- und ausspielt, dann durch dynamische Choreographien befeuert direkt in die Handlung einbezieht. Die einzelnen Charaktere lernt man so kennen, meint, in ihre Seele blicken zu können. Doch kaum glaubt man, alles begriffen zu haben, kommt es unerwartet zu einem Bruch.
Vier Jahre sind seit Manitas’ Geschlechtsumwandlung vergangen. Nun will der ehemalige Gangster seine Familie, die er in der Schweiz in Sicherheit gebracht hat, wiedersehen. Das beschwört Unheil herauf. Nicht zuletzt, weil sich Emilia bei ihren Kindern als deren Tante ausgibt, sie bei sich zu Hause aufnimmt. Eine atemraubende Volte, elegant gelöst vom Regisseur, der auch fürs Drehbuch nach einem Roman von Boris Razon, langjähriger Chefredakteur der Online-Ausgabe von „Le Monde“, verantwortlich zeichnet.
Der Beginn einer Tragödie, die keinen Ausweg gewährt. Die Gewalt hält Einzug. Damit wird der Film realitätsnah, erzählt vom Alltag Mexikos. Ein energiestrotzendes, vitales Gesamtkunstwerk. Furios montiert, nachtschwarz gefilmt von Kameramann Paul Guihaume („Ava“). Ein Fest für alle Sinne – und ein Schlag in die Magengrube.
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