Mehr als vier Jahrzehnte hat Modern-Jazz-Schlagzeuger Allen Blairmann die Szene im Rhein-Neckar-Delta beeinflusst – mit seinem Groove und kompromisslosen Qualitätsstandards. Der Wahl-Heidelberger aus Pittsburgh war ein stiller Star, trotzdem hinterließ sein Tod im April 2022 nach langer schwerer Krankheit eine enorme Lücke. Immerhin: Kurz zuvor konnte der 81-Jährige noch einen wichtigen Teil seines Lebenswerks in Händen halten. Und das in einer Form, die er für angemessen hielt. Zum Record Store Day 2022 ist in einer strikt limitierten 5-LP-Box der Mitschnitt zweier Konzerte in Südfrankreich erschienen, bei denen Blairmann im Juli 1970 in der letzten Band der Free-Jazz-Ikone Albert Ayler zu hören ist. Ein Vermächtnis zweier großer Musiker.
Historisch relevant sind die noch als Vierfach-CD erhältlichen Aufnahmen mit dem Albumtitel „Revelations: The Complete ORTF 1970 Fondation Maeght Recordings“ auch, weil sie einen der letzten Kreativhöhepunkte Aylers dokumentieren. Der Starsaxofonist hatte zuvor ein Karrieretief durchschritten, wirkte stilistisch ungewohnt orientierungslos und hatte psychische Probleme. Die neuformierte Band um Blairman klingt im Museum der Fondation Maeght auch heute noch alles andere als museumsreif. Eher wie ein Aufbruch zu neuen Ufern, der den Hippie-Zeitgeist der 1970er mit der freien Expressivität des Modern Jazz verbindet. Damit ist der Titel „Revelations“ – Offenbarungen – nicht einmal übertrieben. Sogar eine Kooperation mit Jimi Hendrix, dem Übergitarristen des Rock, soll geplant gewesen sein. Leider starb Albert Ayler am 25. November 1970 im Alter von 34 Jahren.
Bei Blairman verhinderte eine Abneigung gegen Oberflächlichkeiten und Kompromisse im Musikgeschäft eine noch größere Karriere – genauso wie sein Hang zu Suchtmitteln. Aber er hatte sich über Jahrzehnte im familiären Idyll von Heidelberg-Handschuhsheim so eingerichtet, dass er dort zum Teil des Stadtbildes wurde und mit sich und der Welt im Reinen wirkte.
Zur Person
- Allen Blairman wurde am 13. August 1940 in Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania geboren. Der Drummer starb am 29. April 2022 in Heidelberg.
- Schon als Teenager spielte er im Alden Jazz Quartet. 1959 kam es zu ersten Plattenaufnahmen mit dem Charles Bell Contemporary Jazz Quartet – produziert von Bob-Dylan-Entdecker John Hammond.
- 1964 zog Blairman nach Washington, 1968 nach New York. Dort spielte er mit Größen wie Charles Mingus, Chet Baker, Charlie Haden, Archie Shepp oder George Benson. Nach einer Tournee mit dem Heidelberger Karl Berger Anfang der 1970er wurde Blairman dauerhaft in dessen Heimatstadt sesshaft – und zu einer prägenden Kraft nicht nur für die Jazzszene der Region. U.a. spielte er in mehreren Projekten mit Saxofonist Olaf Schönborn.
- Historisch sind die jetzt neu veröffentlichten Aufnahmen im Museum Fondation Maeght bei Nizza aus dem Juli 1970, auf denen Blairman in einer neuformierten Band des Free-Jazz-Stars Albert Ayler spielte.
- Unter dem Titel „Revelations: The Complete ORTF 1970 Fondation Maeght Recordings“ sind die beiden Konzerte auf Basis eines Radio-Mitschnitts beim Label Elemental als Vierfach-CD erschienen. Eine 5-LP-Box gab es zum Record Store Day 2022. Sie wird zu Sammlerpreisen ab 250 Euro gehandelt.
Zeitloser Schlagzeug-Stil
Dabei hätte er natürlich das Zeug gehabt, auch auf Dauer mit Jazz-Weltstars zu spielen. Das hört man den 52 Jahre alten Aufnahmen aus Südfrankreich deutlich an: Blairmans treibendes, vertracktes, teilweise irrwitzig swingendes Zusammenspiel mit Bassist Steve Tintweiss klingt zeitlos und könnte noch heute auf jeder Bühne bestehen. Ayler lässt ihm Leine, auch eigene Ideen umzusetzen – Zeit für Proben soll ohnehin nicht gewesen sein.
Das freie Spiel hat trotzdem Form, und sei es durch mantra-artigen Sprechgesang von Mary Maria. Oder wenn Ayler Pianist Call Cobbs mit „Holy Family“ plötzlich einen Blues ansagt (nicht eben typisch im Free Jazz). Der Bandleader und Maria als Sopransaxofonistin bildeten neben der Rhythmusgruppe ein zweites Duo, das sich mitunter regelrecht duelliert – ein später Höhepunkt des Free Jazz. Wenn auch nicht jeder hippie-esque Ausflug in Wort und Klang noch in die heutige Zeit passt. Cobbs konnte erst zum zweiten Konzert anreisen und ist dementsprechend nur auf der Hälfte der Stücke zu hören.
Ein Teil der insgesamt 29 Stücke wurde auf „Nuits de la Fondation Maeght“ bereits veröffentlicht. „Mit den Aufnahmen in Bootleg-Qualität war Allen nie zufrieden“, erzählt sein Freund und Band-Kollege Olaf Schönborn. „Die neue Veröffentlichung auf der Basis eines Radio-Mitschnitts hat ihn kurz vor seinem Tod erreicht und wahnsinnig gefreut.“
Im inhaltlich extrem hochwertig gestalteten Booklet erzählt Blairman in einem Interview über das Zustandekommen und die spirituelle Art der Zusammenarbeit mit Ayler. Er habe damals in der Avenue B gelebt, berichtet der Schlagzeuger, also in New Yorks Lower East Side. Damals eine Oase für hochkarätige Musiker. In der Nachbarschaft habe man ständig Größen wie Wilbur Ware, Archie Shepp, Richie Havens oder Sun Ra gesehen. Er habe nur aus dem Fenster schauen und interessante Kollegen zum Essen hochbitten müssen. So lernte er auch Albert Ayler kennen. „Er kam hoch. Wir aßen zusammen und sprachen über Musik. Er mochte, was er hörte. Ich stand schon 1958 auf freie Musik.“ Ayler fragte Blairman daraufhin: „Willst du mit mir spielen?“
Da musste Blairman nicht lange überlegen. Die Konzerte in der Maeght Fondation hatte er noch in bester Erinnerung: Die erste Show am 25. Juli 1970 sei sehr energiegeladen gewesen: „Viel Sensitivität und einander Zuhören, es ging nicht nur um ,Ich mache mein Ding und du machst dein Ding.’“
Es ging um Kunst
Ayler habe sein Leben verändert: „Er berührte mich spirituell. Wir waren intuitiv im Einklang.“ Das sei wie bei John Coltrane und seinem Schlagzeuger Elvin Jones gewesen. Als der Drummer zu Coltrane befragt wurde, habe der geantwortet: „,Es war, als hätte mich ein Engel berührt.’ So ging es mir mit Albert.“ Die Harmonien, die Ayler spielte, seien unglaublich gewesen. Aber Blairman lobte auch die anderen Bandmitglieder: Mary Maria war für ihn ein „weiblicher John Coltrane (...) sie konkurrierte nicht, sie brannte.“ In Bassist Steve Tintweiss sah er einen jüngeren Bruder. Das euphorische Publikum fand er wunderbar: In Frankreich sei verstanden worden, um was es den Jazz-Musikern ging: Kunst! „ Hört euch Ornette Coleman an (...) er ist ein reiner Künstler.“ Wie Louis Armstrong, Charlie Parker, John Coltrane. „Und Albert.“
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