Ein Künstler, der in langen Streifzügen in der Natur, in Feld und Wiese Blütenstaub sammelt, um ihn in minimalistisch-geometrischen Flächenformen am Boden auszubreiten, in leuchtend gelben Kunstwerken? Der mit Milch und Reiskörnern arbeitet und aus Bienenwachs Skulpturen formt, die an archaische Kultbauten gemahnen? Wichtige Antriebskräfte für Wolfgang Laibs künstlerisches Schaffen sind die Achtung für die Natur und die bewusste Teilhabe an ihren Kreisläufen. Längst gilt der im oberschwäbischen Biberach an der Riss lebende Künstler als eine der wichtigen Gestalten der Gegenwartskunst.
Für sein erstaunliches Werk wurde er 2015 in Tokio mit dem Praemium Imperiale für Skulptur ausgezeichnet – einem Preis, der den Stellenwert eines Nobelpreises für Kunst besitzt. Laib reihte sich damit in einen Namen wie Gerhard Richter, Christo und Jeanne-Claude oder Bruce Nauman umfassenden illustren Kreis ein.
Jetzt ist der 73-Jährige mit seinem bedeutenden Gesamtwerk erstmals in einer umfangreichen Retrospektive in seiner näheren Heimat zu sehen. Noch bis Anfang November bietet die Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart einen Querschnitt durch sein Werk – mit allen bedeutsamen Stationen der künstlerischen Entwicklung Laibs und den wichtigsten Werkgruppen aus sämtlichen Schaffensphasen. In Zusammenarbeit mit dem Künstler haben Ulrike Groos, Direktorin des Museums, und Anne Vieth die Schau eingerichtet. Der Künstler aus der oberschwäbischen Provinz ist ein Weltbürger. Neben seinem Atelier in Biberach besitzt Laib auch eines in New York und an seinem Zweitwohnsitz in Südindien.
Schon früh viel gereist
Schon als junger Mensch unternahm Laib zahlreiche Reisen – insbesondere nach Asien –, auf denen er fernöstliche Kulturen kennenlernte und sich von ihrer Weltsicht und ihrer Philosophie inspirieren ließ. Als ganzheitlich denkender Mensch ist sein geistiger Horizont global. Der Mensch ist für ihn nicht gottgleicher Herrscher der Welt. Als Teil der Natur ist er vielmehr gehalten, im Einklang mit ihr zu leben und sich nach ihren Gesetzen zu richten. Wie hilfreich eine derartige Einstellung wäre, erweist sich in der Gegenwart mehr und mehr.
Kunst oder Heilkunst? So lautete für den jungen Wolfgang Laib die Alternative. Die beiden so unterschiedlich anmutenden Bereiche erwiesen sich für den Künstler schließlich als wesensverwandt; in einer großen Synthese traten sie zusammen. Er habe nie etwas anderes gemacht als das, „was ich als Arzt machen wollte – und nicht machen konnte“, sagt Laib. „Ich denke, ich habe nie meinen Beruf gewechselt“.
Noch vor seinem Abschluss als Medizinstudent in den 1970ern hatte er begonnen, parallel zum Studium künstlerisch zu arbeiten. Früh erkannte er für sich, dass der Anspruch von Kunst der sein müsse, „die Welt zu verändern: hin zu etwas ganz anderem“. Im Titel der Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart klingt dieser Vorsatz an: „The Beginning of Something Else“.
Kunst als eine andere Heilkunst also: als eine Art ganzheitliche Medizin, eine Daseinsform im Einklang mit der Natur, bei der das menschliche Maß wieder Geltung erlangt. In Stuttgart markieren tausende kleine Reishaufen im dritten Obergeschoss den Beginn des ausnahmsweise von oben nach unten verlaufenden Parcours. Reihen kleiner Haufen von Reis überziehen in rasterartiger, geometrischer Anordnung den Boden des riesigen Saals: jeweils eine Handvoll und nur eine Handspanne voneinander entfernt, ausgelegt von Laib höchstpersönlich. Man kann in der Installation, die man lediglich an den Rändern, entlang der Innenseite der Außenmauern des Kunstkubus umgehen kann, in der reduzierten Formensprache die Nähe von Laibs Kunst zur Minimal Art veranschaulicht finden.
Besuch in „Stadt des Schweigens“
Arbeiten der wichtigsten Werkgruppen versammeln sich in der Schau zu einer Art Gesamtkunstwerk. In die Installation mit den Reishaufen hat Laib zwei seiner Treppenskulpturen sowie einen seiner Zikurrate integriert. Vom zweiten Stockwerk aus lässt sich das großflächige Rechteck aus Kiefernblütenstaub im ersten Stockwerk auch von oben betrachten. Laibs Wachsskulpturen der „Stadt des Schweigens“ wiederum versammelt Architekturen aus unterschiedlichsten Kulturen.
Nicht zuletzt bereichert ein Milchstein aus dem Jahr 1993 die Präsentation. Dazu werden Zeichnungen geboten sowie auf zahlreichen Reisen entstandene Fotografien; nicht zu vergessen auch der Wachsraum im weitläufigen Untergeschoss des Museums. Er ist einer von weltweit nur sieben Räumen dieser Art. Gleich anderen Werken erweist sich der seit 2005 dauerhaft installierte, mit Bienenwachsplatten ausgekleidete Raum als synästhetisches, nämlich als gleichermaßen visuelles und olfaktorisches Erlebnis.
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