Mit einer rührenden Geschichte betreibt die Abtei Seligenstadt über Jahrhunderte Imagepflege: Einhard, der Berater und Biograf Karls des Großen, und die Kaisertochter Imma heiraten gegen den Willen des Herrschers, der beide verstößt. Der Zufall bringt die Möglichkeit zur Versöhnung, alles wird gut, und Einhard gründet um 830 die Abtei. Erst im 18. Jahrhundert kommt die Wahrheit ans Licht: keine Kaisertochter. Aber die Sage, von der es übrigens etliche Varianten gibt, ist so schön, dass sie es verdient, erzählt zu werden – auch ohne Bezug zur Realität.
Demnach hat sich die Kaisertochter in den Berater ihres Vaters verliebt und gewährt ihm ein Schäferstündchen, obwohl sie einem griechischen König versprochen ist. Doch über Nacht fällt Schnee. Was tun, um verräterische Spuren zu vermeiden? Imma nimmt ihren Einhard huckepack und trägt ihn davon. Vergebliche Mühe. Denn der Kaiser beobachtet von einem Fenster die Szene, zieht seine Schlüsse und verstößt beide vom Hof. Das Paar zieht sich nach Mühlheim am Main zurück. Verzweifelt bemüht sich Karl, der das im ersten Zorn ausgesprochene Urteil bald bereut, seine Lieblingstochter wiederzufinden.
Eines Tages verirrt er sich auf der Jagd und findet schließlich frierend und hungrig in einer ärmlichen Fischerhütte bei Mühlheim Unterschlupf. Als der Kaiser dort ausgerechnet sein Lieblingsgericht serviert bekommt, erkennt er in der Hausherrin seine Tochter. Freudig ruft er aus: „Selig sei der Ort genannt, wo ich Imma wiederfand!“ In Erinnerung an diese Begebenheit soll Mühlheim in Seligenstadt umbenannt worden sein. So erzählt es die Sage. Entscheidend für die Namensänderung sind aber vielmehr die „selig machenden“ Reliquien, die Einhard nach Mühlheim bringen lässt.
Ursprünglich will er seinen Lebensabend in Steinbach bei Michelstadt im Odenwald verbringen. Von dem dortigen „Altersruhesitz“ ist noch die 827 vollendete Einhardsbasilika, ein beeindruckender karolingischer Kirchenbau, erhalten. Die aus den römischen Katakomben entwendeten Gebeine der Märtyrer Petrus und Marcellinus sollen diesem Gotteshaus besondere Bedeutung verleihen.
Unzufriedene Heilige?
Doch bereits 828 lässt Einhard die Reliquien nach Mühlheim überführen und beginnt um 830 mit dem Bau der Benediktinerabtei, in der er und Imma auch ihre letzte Ruhestätte finden. Die Gründe für diese Übersiedlung sind unklar. Einhard berichtet, die Heiligen wären unzufrieden mit ihrer neuen Heimat gewesen. Sie hätten von ihren Hütern verlangt, nach Mühlheim am Main gebracht zu werden, das ebenfalls Einhard gehört. Im Januar 828 erhalten die Märtyrer ihren Willen. Und in Mühlheim tun sie sofort das, was Heilige tun: Wunder vollbringen. Das spricht sich herum, und die Wallfahrer strömen. Hier liegt wohl der wahre Grund für den Umzug. Denn Steinbach liegt weit abseits im Nirgendwo, Mühlheim aber am Main und an wichtigen Straßen.
Als Einhard 840 stirbt, muss die dem Reich unterstehende Abtei vollendet gewesen sein. Bald steigt sie zu großem Reichtum und Ansehen auf, wird zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert zeitweiliger Aufenthaltsort von Kaisern und Königen sowie Schauplatz von Hoftagen. Dann ein Dämpfer: 1063 verliert die Abtei die Reichsunmittelbarkeit und gehört seither den Mainzer Erzbischöfen.
Doch das tut der wirtschaftlichen Prosperität keinen Abbruch, und 1208 erlaubt der Papst den Äbten, in Anerkennung ihrer Bedeutung die Mitra zu tragen, eine Kopfbedeckung, die eigentlich nur Bischöfen zusteht.
Einen drastischen Einschnitt bringt der Dreißigjährige Krieg. 1631 markiert eine Plünderung durch schwedische Truppen den Auftakt zu weiteren Barbareien, wobei auch die kostbare Bibliothek mit Handschriften von unschätzbarem Wert schwere Einbußen hinnehmen muss. 1632 und 1637 plündern schwedische Truppen erneut die Abtei, 1646 die Franzosen. Ein Mönch schildert das Resultat: „...und traurig war die Gestalt des Klosters, grausig anzusehen: die Mauern zusammengestürzt, den Dächern droht der Einsturz, die Abtei, welche einst so glänzend war, sie ist voll von sie ist voll von grausigen Schicksalen.“
Nach Kriegsende lassen tatkräftige Äbte die Abtei im barocken Stil wiederaufbauen, die damit ihr heutiges Aussehen erhält. Ein Symbol für den neuen Reichtum des Klosters stellt die 1699 vollendete Prälatur dar, Wohnhaus der Äbte und gleichzeitig Herberge für hochrangige Gäste. Oft kehren die Mainzer Erzbischöfe ein, um von hier aus zur Jagd zu reiten. Und nach Jahrhunderten kommen auch wieder Kaiser. 1658 besucht Leopold I. auf seiner Reise zur Krönung in Frankfurt die Abtei, 1711 Kaiser Karl VI. und 1792 Franz II., der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, dessen Ende heraufzieht. Ungebetene Gäste benutzen die Prachträume ebenfalls: Heerführer der französischen Revolutionstruppen und deren Gegenspieler.
Behörden statt Beten
Als Entschädigung für linksrheinische Gebiete, die an Frankreich fallen, erhält Landgraf Ludwig X. von Hessen-Darmstadt Abtei und Stadt. Das fast 1000 Jahre alte Kloster wird 1803 aufgelöst, in die Räume ziehen Behörden ein, während die Kirche an die katholische Gemeinde fällt. Das Gotteshaus gilt als europäisches Kulturdenkmal ersten Ranges, denn von der Basilika Einhards haben sich Langhaus und Querhaus erhalten. Um 1050 wird der karolingische Bau um eine Doppelturmfassade im Westen erweitert, die 1868 trotz massiver Kritik leider einem Neubau weichen muss. Der Chor entsteht um 1240. Eine Generalsanierung zwischen 1937 und 1953 löscht viele Spuren der im 18. Jahrhundert erfolgten Barockisierung aus und stellt die karolingischen Bauteile frei. Ein ernster, einfacher und gerade deshalb großartiger Raum empfängt den Besucher.
Informationen für Besucher
Anfahrt von Mannheim: Auf der A67 Richtung Frankfurt, weiter auf der A5 bis zum Frankfurter Kreuz. Dort auf die A3 Richtung München/Würzburg bis Abfahrt Seligenstadt.
Parken: Vor dem Friedhof (Fußweg fünf Minuten) oder am Mainufer (Fußweg drei Minuten).
Entfernung von Mannheim: etwa 100 Kilometer
Fahrzeit: circa eine Stunde
Mit ÖPNV: Zielbahnhof Seligenstadt, dann etwa 15 Minuten Fußweg
Öffnungszeiten der Abtei: Winterpause bis 31. Januar 2024, März bis Oktober: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr. November, Dezember, Februar: Dienstag bis Sonntag 10 Uhr bis 16 Uhr. Klostergarten bis Einbruch der Dunkelheit frei zugänglich, im Sommer bis 20 Uhr. Informationen zu Führungen und Preisen: auf der Internetseite https://www.schloesser-hessen.de/de/kloster-seligenstadt/veranstaltungen, telefonisch: 06182 – 22640 oder per Mail: marcus.paschold@schloesser.hessen.de. Anmeldung im Museumsshop. Im Rahmen von anderen Führungen werden neben Prälatur, Küche und Bibliothek auch Kreuzgang und Refektorium besucht.
Öffnungszeiten der Klosterkirche: Dienstag bis Sonntag von 9 bis 18 Uhr (außerhalb der Gottesdienstzeiten), Chor und Vierung nur mit Führungen (buchbar unter 06182 – 3375, oder info @Marcellinus-Petrus.de, pro Person drei Euro, mindestens 30 Euro sollten pro Führung zusammenkommen.
Weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt: Marktplatz mit vielen Fachwerkhäusern, Romanisches Haus (Rathausinnenhof), Reste der Stadtbefestigung, Teile der von Friedrich I. Barbarossa um 1180 errichteten Kaiserpfalz am Main. kba
In der Vierung steht der Altar mit dem Reliquienschrein der Heiligen Petrus und Marcellinus. Sie ist nur bei Führungen zugänglich, ebenso die Kapelle mit der letzten Ruhestätte von Einhard und Imma. Untersuchungen im Jahr 2004 haben ergeben, dass der Sarg tatsächlich die Gebeine des Paares enthält, zudem die Reste einer Adligen, von der lediglich der Name „Gisla“ bekannt ist.
Die Kirche gehört der katholischen Gemeinde, die Klostergebäude dagegen dem Land Hessen. Beim Eintritt durch die Klosterpforte schweift der Blick über einen Teil der 24 000 Quadratmeter umfassenden Anlage, einer Art „Mönchsstadt“. Die Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten saniert sie seit 1983 mit dem Ziel, einen „Eindruck vom Alltag in einem Benediktinerkloster zur Zeit des Barock“ zu geben, wie es in einer Broschüre heißt, die im Besuchershop erhältlich ist. Eine Mammutaufgabe. Schon allein wegen der mit hohem Aufwand und viel Liebe gepflegten Gärten lohnt ein Besuch. Empfehlenswert auch, die paar Euro für eine Führung auszugeben.
Alles verscherbelt
Markus Paschold zeigt zuerst die bereits erwähnte Prälatur von 1699. Sie birgt leider außer Wandgemälden wenig Originales. „Nach der Auflösung hat der Landgraf alles verscherbelt, was sich zu Geld machen ließ“, erläutert Paschold. Deshalb stammt ein Großteil der Möbel aus den Beständen der Schlösserverwaltung, aus Museen oder vom Kunstmarkt.
In einer kleinen Kammer neben den Prunkräumen hauste der Leibdiener des hohen Herrn. Er schlief vielleicht in einer Bettlade, einer sehr praktischen Vorrichtung für Reisende: Zusammengeklappt diente sie als Tisch, offen als Bett. Weiter in die Bibliothek. Nur ein einsamer Pultschrank erinnert an die einst imposante Büchersammlung. Dann geht es in die Küche. Ein großer, rußgeschwärzter Raum mit riesigem Herd und Rauchabzug. Eine „Großküche“ für etwa 120 Leute. Bei den hier zubereiteten Speisen gab es eine soziale Abstufung in Sachen Quantität und Qualität.
Die Besucher der täglichen Armenspeisung erhielten ihre Rationen aus einer Durchreiche an der Südwand der Küche. Hier steht auch ein Text, der die Bezieher auffordert, Bescheidenheit zu üben, sich mit Haferbrei und Gerste zufriedenzugeben und keinen Gedanken an Braten zu verschwenden. Schließlich: „Droll dich hinweg. Dir wird nit mehr.“ Humor oder Ernst? Die Klosterregel fordert unmissverständlich Großzügigkeit: „Alle Fremden, die kommen, sollen aufgenommen werden wie Christus.“ Dabei wird die Abtei öfters an die Grenzen des Möglichen gekommen sein. So verteilt das Kloster im 18. Jahrhundert tagtäglich ein Fass Bier und ein Fass Suppe an die Armen.
Gemüse und Obst kamen aus dem rund 8000 Quadratmeter großen Klostergarten. Ohnehin war die Abtei ein fast autarkes Gemeinwesen mit eigenem Ackerbau, Vieh- und Fischzucht, Weinbau, Forstwirtschaft und diversen Handwerkern. Der Garten lieferte auch die Rohstoffe zur Zubereitung von Arzneien für die Klosterapotheke. Besonders stolz waren die Äbte aber auf die 1757 errichtete Orangerie, ein beheizbares Glashaus, in dem subtropische Pflanzen überwinterten und exotische Früchte wie Ananas, Zitronen und Orangen gezüchtet wurden. Auch diese Tradition führt das Land Hessen in vorbildlicher Weise fort.
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