Schillertage am NTM

"Wilhelm Tell" mit ukrainischen Kriegsbezügem am TiG7

„Tell. Eine ukrainische Geschichte“ heißt die Koproduktion zwischen Nationaltheater und Theaterhaus G7, in der die NTM-Schauspieler Rocco Brück und Boris Koneczny an der Seite ukrainischer Darstellerinnen spielen

Von 
Martin Vögele
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Boris Koneczny (v. l.), Rocco Brück, Oksana Zhdanova und Vitalina Bibliv beim eindringlichen Theaterspiel in der Filsbach. © Maximilian Borchardt

Mannheim. Am Ende des Stücks sehen wir eine Frau im Video, Tetiana Bondarenko, die Schillers „Wilhelm Tell“-Monolog zitiert, der dem Schuss der Heldenfigur auf den Tyrannen Gessler in jener hohlen Gasse bei Küßnacht vorausgeht. Sie sei Schauspielerin gewesen, sagt sie, seit dem 24. Februar aber bei den ukrainischen Streitkräften. Eine andere Schauspielerin, Vitalina Bibliv, wird sich auf der Bühne des Mannheimer Theaterhauses G7 in eine Witwe verwandeln, die vor den russischen Besatzern flieht. Warum sie nicht bleibt, sie sei doch schon alt? Sie würde „vor Selbstekel sterben“, wenn sie den russischen Pass und die russische Rente annähme, entgegnet sie. Ihr Mann war Feuerwehrmann gewesen, und als sogenannter Liquidator einer der ersten, die nach der Tschernobylkatastrophe am Unglücksort waren. Er starb, als der gemeinsame Sohn vier Jahre alt war. Derselbe Sohn, der den 24. Februar nicht überleben sollte.

Flucht und Familie

Der 24. Februar 2022 – der Tag, als Russland die Ukraine in einer Großoffensive angriff: Dieses Datum frisst sich bei der Uraufführung des Schillertage-Schauspiels „Tell. Eine ukrainische Geschichte“ immer wieder seinen Weg in die Handlung – ganz wie das „gärend Drachengift“, von dem der Dichter seinen Tell sprechen ließ. Schauspielerin Oksana Zhdanova erzählt, wie ihre Familie wiederholt floh, erst 2014 aus dem okkupierten Donezk im Donbass, dann am 24. Februar aus Kyiv – der mit Raketen beschossenen Stadt, die wir vormals „Kiew“ schrieben: Auch die Sprache ist ein seismografisch sensibles Instrument, ist ein Politikum geworden.

Die Koproduktion

Die Uraufführung „Tell. Eine ukrainische Geschichte“ ist eine Koproduktion von Mannheimer Nationaltheater und Theaterhaus G7 in Zusammenarbeit mit ukrainischen Künstlerinnen und Künstler.

Regie führt Stas Zhyrkov, der Text stammt von Pavlo Arie und Marina Smilyanets.

Das Stück wird im Rahmen der 22. Schillertage aufgeführt, die das Nationaltheater bis zum 2. Juli an verschiedenen Spielorten ausrichtet.

Weitere Vorstellungen finden am 26., 28. und 29. Juni sowie am 1. und 2. Juli, jeweils um 20 Uhr im Theaterhaus G7 statt. Karten gibt es telefonisch unter 0621/1680 150. mav

Es sind Tragödien-Splitter, die der Krieg in Fleisch und Seele der Menschen treibt, die sich in der Inszenierung von Stas Zhyrkov, bis vor kurzem Intendant des Left Bank Theatres in der ukrainischen Hauptstadt, zu einem schmerzvollen, dokumentar-theatralen Bild formieren. In dieser Koproduktion zwischen Mannheimer Nationaltheater (NTM) und Theaterhaus G7 spielen die NTM-Ensemblemitglieder Rocco Brück und Boris Koneczny an der Seite der ukrainischen Darstellerinnen Bibliv und Zhdanova. Die deutschen Texte werden auf Ukrainisch übertitelt, die ukrainischen auf Deutsch.

Dabei bleiben die persönlichen Perspektiven nicht auf die Ukraine beschränkt: Koneczny berichtet, wie seine Familie in der Zeit des Nationalsozialismus als sogenannte „Buchenlanddeutsche“ aus der Bukowina nach Deutschland kamen, berichtet vom Nicht-Ankommen, vom Leben im Umsiedlungslager zwischen Typhus, Ruhr und Wanzen und der späteren Flucht aus Polen, als die russische Armee vorrückte.

Rocco Brück erzählt vom jüdischen Urgroßvater, der im Konzentrationslager sterben musste. Dessen Frau es nicht fassen konnte, dass die Nazis ihn holten – ihn, der als Soldat im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden war.

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Doch fängt das Stück überaus heiter an, und in den Reihen hinter uns wird bei der Premiere laut gelacht, wo später Weinen zu hören sein wird. Ein malerisches Bühnenvorhang-Bergidyll glüht da die Alpenhochstimmung vor, die Spielerinnen und Spieler sitzen erst einmal selbst auf Publikumsstühlen, und Brücks Frage „Wisst Ihr was über Wilhelm Tell?“ folgt eine überdrehte, Filzhut-schwingende Schnellvorstellung der Tell’schen Freiheitskampfgeschichte, die bekanntlich vom Aufbegehren der Schweizer gegen das Joch der Habsburger kündet.

„Das ist doch genau die gleiche Situation“, sagt Koneczny der ukrainischen Gegenwart zugewandt. „Vor dem Krieg waren wir auch alle Pazifisten“, meint Bibliv, und Zhdanova fragt mit Blick auf den bereitgehaltenen zweiten Pfeil, den Tell gegen den Vogt richten wollte, wenn er denn den eigenen Sohn beim berühmten Apfelschuss getroffen hätte: „Warum schießt er nicht zuerst auf Gessler?“

Passionierte Szenen

Sobald der Vorhang fällt, das Tell’sche Eingangsportal durchschritten ist, wird es indes dunkel: Ein Zimmer mit geschwärztem Mauerwerk ist da zu sehen (Ausstattung: Davide Raiola), ein großer hölzerner Hängeschrank bildet das Zentrum. Es ist dies der Ausgangs- und Ankerpunkt für all die narrativen Fäden, die sich von hier aus verzweigen und teils später wieder verknüpft werden.

Von den Spielerinnen und Spielern so feinnervig wie passioniert in Szene gesetzt, ist „Tell. Eine ukrainische Geschichte“ mithin ein durch Zeitläufe und menschliche Schicksale hindurch gestochenes Menetekel, ein Klagelied, das vom Tod und Leid, von Flucht und Vertreibung kündet. Direkt, schwer lastend und eindrücklich.

Freier Autor

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