Das Interview

Ulrike Stöck vom NTM: „Auch Chemie-Werke haben Biografien"

Die Intendantin des Jungen Nationaltheater Mannheim, Ulrike Stöck, hat ein neues Stück entwickelt, das am 12. November Premiere feiert. Im Interview spricht Stöck über die Hintergründe der Produktion

Von 
Ralf-Carl Langhals
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Über Chemie und mit Musik: Jugendtheater-Intendantin Ulrike Stöck. © Maximilian Borchardt

1958 war man sich in der DDR auf der Chemiekonferenz bei den Leunawerken sicher: „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit.“ Ist das heute immer noch so? Mit dieser Frage beschäftigen sich Ulrike Stöck und ihr künstlerisches Team an drei Standorten, die eng mit der Chemieindustrie verbunden sind: Mannheim/Ludwigshafen, Leuna und Oswiecim (Auschwitz) in Polen. Wir sprachen mit NTM-Intendantin Ulrike Stöck, die hier auch Regie führt.

Chemie – ein ungewöhnliches Thema für Kinder- und Jugendtheater, wie kommt man darauf?

Ulrike Stöck: Da gab es zunächst einen ganz persönlichen Impuls. Als ich nach Mannheim kam, fragte ich mich: „Warum fühlst du dich hier eigentlich so wohl?“ Und das hat tatsächlich etwas damit zu tun, dass die Industrie, die hier ist, bei mir eine Art Heimatgefühl auslöst. Mein Mann brachte es damals dann auf den Punkt: „Endlich mal wieder ’ne Stadt, die stinkt!“

Das freut uns Mannheimer aber!

Stöck: Na ja, da wo ich in der DDR herkomme, aus der Nähe von Halle, und dort, wo ich später zur Schule ging, hat es nach dem Mauerfall irgendwann aufgehört zu stinken, weil eben alles stillgelegt wurde. Industrielandschaften geben mir daher Heimatgefühle, auch wenn ich etwa an Leuna vorbeifahre, wo meine Eltern gearbeitet haben. Die Stiftung EVZ (Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, d.Red.) kam auf uns zu. Sie verwaltet seit den 2000er Jahren die Ausgleichszahlungen der deutschen Großindustrie für Zwangsarbeit während der NS-Zeit. Sie fragte an, ob wir nicht aus Restmitteln ein großes Projekt zur Erinnerungskultur machen wollen.

Was hat Sie daran gereizt?

Stöck: Die Kontinuität von Industrie finde ich total spannend. Wir reden ja im Theater viel von Biografien. Und Industriebetriebe haben eben auch Biografien, gerade in einer Stadt wie Mannheim.

Sie fragten auch anderenorts?

Stöck: In Verbindung mit meiner Chemie-Erfahrung aus Leuna und den Erinnerungen meines Vaters, der in Kattowitz, das nur 40 km von Auschwitz entfernt ist, aufwuchs, ergab sich ein geografischer Dreiklang zum Thema Chemiewerke, die ihr Umfeld und somit auch die Biografien der Menschen, seien es Mitarbeiter und deren Angehörige oder auch Anwohner, stark prägen und über ein Jahrhundert prägten. Mannheim/Ludwigshafen war das Ursprungswerk, Leuna wurde quasi für den Ersten Weltkrieg gebaut und in Auschwitz Buna IV, von der IG Farben für den Zweiten Weltkrieg.

Starker Tobak oder besser: ein explosives Gemisch. Hätten Sie nicht auch etwas zu „Es stinkt, qualmt und zischt“ machen können?

Stöck: Ja, sicher, das wäre auch gegangen, wäre aber dann ein anderes Stück geworden. Ich wollte mit Jugendlichen reden, die schon das Bewusstsein für die Problematik haben, die schon wissen, dass viel Fortschritt an chemischen Erfindungen hängt. Man weiß aber auch, dass immer wieder schlimme Dinge passieren, etwa, dass das Abfallprodukt Chlorgas im Ersten Weltkrieg als Kampfmittel eingesetzt wurde oder 1921 bei der Explosion des BASF-Stickstoffwerks in Ludwigshafen-Oppau 600 Menschen starben.

Sie widmen die Arbeit also dem Oszillieren zwischen Fortschrittsglaube, Wohlstandsversprechen und dem Schrecken der Gefahr?

Stöck: Ja, schon, aber weniger wissenschaftlich-historisch als biografisch. Ich wollte mit Jugendlichen ab 14 Jahren an allen drei Orten darüber reden, was zuhause in den Familien über diese Werke erzählt wird.

Geht es dabei auch um Moral?

Stöck: Nein, zumindest nicht in dem Sinne, dass ich frage: Hat die BASF diese oder jene Verantwortung? Ich frage eher nach persönlicher Verantwortung und versuche, auch zu erzählen, dass dies alles gleichzeitig existiert: der Schrecken von Auschwitz und die Erzählung in den Familien, dass das Chemiewerk später im Sozialismus so schöne Schwimmbäder bauen ließ und Schokolade verteilte. Diese Erzählungen existieren beide real nebeneinander, ohne dass sie sich gegenseitig auslöschen.

Apropos biografisch, Sie führten ein Interview mit Ihrem Vater ...

Stöck: Ja, es ist auch deshalb sicher meine persönlichste Arbeit bisher. Mein Vater ist 87 und hat als Chemiker eine lange Strecke dieser dualistischen Industrie-Erzählung miterlebt, den Umbruch 1945 und auch den von 1989. Diese Aufbrüche, das parallele Aufbauen, Entstehen und Vergehen von Industrie – und auch Ideologie. Die Erzählung „Chemiebetriebe sind böse“ ist mir zu einfach und langweilig.

Wie unterscheiden sich die Geschichten der drei Standorte?

Stöck: Der Verlust oder Abbau der Werke im Osten, das Ende der sozialistischen Chemie-Industrie, die Abwicklung ganzer Werke oder einzelner Bereiche liefert natürlich im Osten eine Fülle persönlicher Geschichten, in denen viel Sentimentalität mitschwingt, während hier in der Region Kontinuität gegeben ist und Jugendliche eher Umweltgefahren sehen.

Warum machen Sie daraus Musiktheater und kein Schauspiel?

Stöck: Weil es mir dabei ganz viel um Emotionen geht. Was fühle ich, wenn ich auf der Kurpfalzbrücke stehe und schaue nach links Richtung Odenwald oder nach rechts auf die Industrieanlagen? Oder wenn ich nachts über die A6 fahre und die glitzernde Skyline der BASF sehe? Diesen Gefühlen wollte ich unbedingt mit Musik nachgehen. Es gibt neben der Erzählebene der Interviews und den einordnenden Texten des Autorenduos S. Anger und K. Küspert auch eine Bildebene mit Videos der drei Chemie-Standorte und eine musikalische Ebene, deren Idee wir mit Arno Krokenberger erarbeitet haben.

Wie sieht sie aus?

Stöck: Wir überlegen schon seit langem, auf welche Weise wir unsere Art und Weise, Sprechtheater zu machen, auf das Musiktheater übertragen können. Also im Hinblick auf Stückentwicklung, Durchlässigkeit und Zusammenarbeit. Deshalb haben wir uns nicht für eine Auftragskomposition entschieden, sondern dafür, mit sieben Musikerinnen und Musikern über den sechs Wochen laufenden Probenprozess gemeinsam Musik zu entwickeln.

Keine Partitur, keine Noten?

Stöck: Genau, es gibt Abschnitte und Verabredungen, wo es anfängt und aufhört. In diesem gesteckten Rahmen dürfen die Musiker jedes Mal etwas Neues entwickeln. Sie fangen die Stimmungen und Energie im Raum, die durch Publikumskonstellation und Aufführungszeit im Kinder- und Jugendtheater ohnehin sehr unterschiedlich ist, aktiv und kreativ auf und reagieren darauf spontan musikalisch.

Ein Gesamtkunstwerk?

Stöck: Ja, aber es bleibt für mein Gefühl doch überwiegend Musiktheater, weil es im Ergebnis sehr atmosphärisch ist und weniger auf klassische Textarbeit setzt und sehr dazu anregt, verstärkt die eigenen Gefühle und Assoziationen im Kopf zusammenzusetzen. Das macht wahnsinnig Spaß!

Ulrike Stöck – Regisseurin und Intendantin

  • Ulrike Stöck wurde 1975 in Halle an der Saale geboren und absolvierte ihr Abitur an der Internatsschule Schulpforta.
  • Sie studierte Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam und arbeitete von 1994 bis 1999 als Regieassistentin am Hans-Otto-Theater. Dort führte sie auch erstmalig Regie.
  • 2001 bis 2004 arbeitete sie als Dramaturgin und Regisseurin am Theater Senftenberg, das zu der Zeit ein reines Kinder- und Jugendtheater war, danach war sie sieben Jahre an unterschiedlichen Theatern als freie Regisseurin tätig.
  • Von 2011 bis 2017 leitete sie das Junge Staatstheater Karlsruhe. Seit der Spielzeit 2017/2018 ist Stöck Intendantin des Jungen Nationaltheaters Mannheim.
  • Premiere der Musiktheater Uraufführung „Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit“ (14+) ist am Sonntag, 12. November, 17 Uhr, im Alten Stromwerk, Fardelystraße 1, Neckarstadt-West. Weitere Aufführungen gibt es am 13., 14. und 15. November. Karten gibt es unter 0621/16 80 302.

Redaktion Seit 2006 ist er Kulturredakteur beim Mannheimer Morgen, zuständig für die Bereiche Schauspiel, Tanz und Performance.

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