Schauspiel

Schatten der Vergangenheit

„Ein deutsches Mädchen“ im Pfalzbau

Von 
Alfred Huber
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Erinnerungen. Allerdings keine erfreulichen. Schließlich gehörte Heidi 18 Jahre lang zu den Neonazis. Sie nahm teil an Geländemärschen, hetzte gegen Ausländer, prügelte und beherrschte den Hitlergruß. Auf diese Weise erfährt sie, wenn auch unbewusst, dass jeder Mensch in eine spezielle Welt hineingeboren wird, in der er sich zurechtfinden und bewähren muss. Sich daraus zu lösen, ist schwierig. Zumal, wenn man, wie die 1992 geborene Heidi, seine autoritäre Erziehung in einer Neonazi-Familie erhielt. Noch immer bestimmt häufig das Sein das Bewusstsein.

Als Heidi 20 ist, gelingt ihr der Ausstieg. Sie lernt Felix kennen, einen vom rechten Milieu abrückenden Liedermacher. Als sie ein Kind erwartet, bricht sie mit der Vergangenheit, taucht unter und schreibt als Aussteigerin ein Buch, das unter dem Titel „Ein deutsches Mädchen. Ein Leben in einer Neonazi-Familie“ erschien und jetzt in einer Bühnenfassung als Gastspiel der Schauburg München im Studio des Ludwigshafener Pfalzbaus zu sehen war.

Anfangs steht Lucia Schierenbeck als Heidi am Overhead-Projektor und absolviert unüberhörbar den pädagogischen Teil der Aufführung. Als Antwort auf ihre Frage an das Publikum, wie es sich die äußeren Merkmale eines Neonazis vorstelle, zeigt sie Fotos von jugendlichen Glatzköpfen, Springerstiefeln oder häufig getragenen Symbolen. Erst allmählich nähert sich die sympathisch wirkende Schauspielerin ihrer Rolle, beginnt sie, Heidis Vergangenheit zu reflektieren.

Deutlich wird das in Ulrike Günthers Regie nicht immer. Zwar spielt Schierenbeck Heidis Gespaltenheit zwischen dem nicht mehr Fassbaren von damals und der kritischen Sicht von heute mit einem feinen Gespür für die emotionalen Unterschiede, doch ihr häufiges Referieren blockiert manchmal den emotionalen Anteil dieser Rückblende. Mehr körperliche Aggressivität, mehr Staunen, aber auch mehr Wut über sich selbst hätten der Aufführung eine zusätzliche Authentizität gesichert. Berührend hingegen, wenn Heidi von ihren Ängsten erzählt, wenn sie die sich anbahnende Beziehung zu Felix (nur ein Schattenriss) schüchtern lächelnd begleitet.

Der Regisseurin Ulrike Günther ist trotz kleiner Defizite eine konzentrierte Inszenierung gelungen. Sie vermittelt ein Gefühl dafür, wie leicht es sein kann, Menschen, die keine kritischen Denk-Alternativen kennen, in ein antidemokratisches Netzwerk zu locken. Dass ihr dies ohne Pathos und Besserwisserei gelang, ist überaus bemerkenswert.

Freier Autor Geboren 1941, Studium Musikheorie/Musikwissenschaft, Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte in Mannheim und Heidelberg Volontariat Mannheimer Morgen, Redakteur, anschließend freier Journalist und Dozent in verschiedenen Bereichen der Erwachsenenbildung. Ab 1993 stellvertretender Ressortleiter Kultur, ab 2004 bis zur Pensionierung Kultur-Ressortleiter.

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