Literatur

Neuer Gedichtband von Jürgen Theobaldy veröffentlicht

Der in Mannheim aufgewachsene Lyriker Jürgen Theobaldy prägte mit seinen Werken die literarische Bewegung nach '68 und hinterließ einen bleibenden Einfluss auf die Lyrikszene. Nun feiert er seinen 80. Geburtstag

Von 
Ulrich Rüdenauer
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Der Schriftsteller Jürgen Theobaldy, aufgenommen in Bern im September 1998. © KEYSTONE/ALESSANDRO DELLA VALLE

Mit seinen ersten beiden Lyrikbänden „Sperrsitz“ von 1973 und „Blaue Flecken“ von 1974 gelangte Jürgen Theobaldy ins Zentrum einer literarischen Nach-68er-Bewegung, die der Schriftsteller Hugo Dittberner damals „Neue Subjektivität“ taufte. Neben Theobaldy gehörten Nicolas Born, Ludwig Fels, Günter Herburger oder Rolf Dieter Brinkmann zur jungen lyrischen Szene.

In einer Anthologie mit dem schönen programmatischen Titel „Und ich bewege mich doch“, die Theobaldy 1977 herausgab, schrieb er: „Worum es geht ist, daß die Sprache, in der sich die Lyrik derzeit organisiert, eine der persönlichen Erfahrung ist, ein Widerstand gegen die Massenmedien, Wirtschaftsverbände, Parteien und Ministerien mit ihren verstümmelnden, wirklichkeitsverzerrenden oder synthetischen Produkten.“

Jürgen Theobaldys Biografie - er stammte aus einer Arbeiterfamilie - spiegelte die Aufbruchsstimmung jener Zeit, den Mut zur literarischen Selbstermächtigung und die Abkehr von Traditionen, in denen ein hoher lyrischer Ton vorherrschte. Es ging nun um den Alltag, um die Poesie der Straße und die Popkultur.

Lyrik eines Protokollschreibers

  • Jürgen Theobaldy wurde 1944 geboren und ist in Mannheim aufgewachsen. Seine ersten Gedichte erschienen Anfang der 70er, heute gilt er als eine der prägenden lyrischen Stimmen dieses Jahrzehnts.
  • 1977 war er Stipendiat in der Villa Massimo in Rom und 1983 Writer in Residence an der englischen University of Warwick. Er veröffentlichte prägende Gedichtbände sowie Romane und Erzählungen.
  • Seit 1984 lebt Theobaldy in der Schweiz, weit weg vom bundesdeutschen Literaturbetrieb. Neben seinem Brotjob als Protokollschreiber bei den Parlamentsdiensten der Bundesversammlung veröffentlichte er etliche weitere Bücher, meist in kleineren Verlagen, zuletzt die Novelle „Mein Schützling“ im Transit Verlag oder die Erzählungen „Bis es passt“ im Verlag Brotsuppe.
  • Aus Anlass seines 80. Geburtstages am 7. März lässt sich der Lyriker nun wiederentdecken. „Nun wird es hell und du gehst raus“ heißt eine Auswahl mit mehr als 200 Gedichten.

 

Jürgen Theobaldy wurde 1944 in Straßburg geboren; er wuchs in Mannheim auf, absolvierte eine kaufmännische Lehre und türmte vor der Aussicht, als Angestellter zwischen acht und fünf Uhr nachmittags in einem Gefängnis eingesperrt zu sein. „Ich wollte weg, ich wollte eine andere Perspektive, als die nächsten Jahre fürs Häusle zu sparen.“

Lyrik bot Theobaldy keine Lebensgrundlage

Die Lyrik bot dafür eine Form, wenn auch keine Lebensgrundlage. Er jobbte als Möbelpacker und Briefträger, holte das Fachabitur nach, studiert zunächst Pädagogik, später Germanistik und Politikwissenschaften, und all das in den Hochzeiten der Studentenrevolte. 1974 wurde er von Walter Höllerer, dem großen Zampano des Literaturbetriebs, magisch angezogen und ging an die TU nach Berlin.

Die Magisterarbeit ließ er zugunsten eines Romanmanuskripts sausen. Von da an versuchte er sein Glück als freier Schriftsteller, zwischen Prosa und Lyrik hin- und herwechselnd; irgendwann wurde heimisch in der Schweiz und arbeitete als Parlamentsschreiber, ein fast romanhaft wirkender Brotjob.

Zum 80. Geburtstag erscheint nun eine große Auswahl seiner Gedichte in dem Band „Nun wird es hell und du gehst raus“, dem der Kritiker und Autor Helmut Böttiger ein würdigendes und einordnendes Nachwort beigefügt hat. Wie eine Befreiung hätten seine Gedichte in der Anfangszeit gewirkt, schreibt Böttiger; Theobaldy sei schnell zum meistzitierten Wortführer seiner Generation geworden. Wenn man die Texte aus 50 Jahren in chronologischer Folge liest, so erkennt man sowohl die Wirkkraft, die sie damals besessenen haben müssen; als auch die spätere Entwicklung, die Theobaldy abseits öffentlicher Aufmerksamkeit genommen hat.

Theobaldy verarbeitet auch seine Zeit in Mannheim in seiner Lyrik

Nicht zuletzt aber spürt man schon nach den ersten Zeilen, dass hier ein genauer, die Sprache gerade nicht als Kampfmittel, sondern als Ausdruck sinnlicher Erfahrungen begreifender Dichter am Werk ist. „Wie schwer sind die Zeiten / wenn man schweren Wein braucht / um vorwärts zu kommen, um auch nur / ein Blatt Papier mit ein paar Gedanken / schwerer zu machen?“

Nicht mehr die Tagespolitik, sondern die Nöte des Ich bestimmen nun das Schreiben. Nicht Ideologie, sondern Idiosynkrasien. Nicht Geschichte, sondern Geschichten - die durchaus politisch sein können. Es kommen darin biografisch einschneidende Ereignisse vor, Jugenderlebnisse in Mannheim, das Empfinden bei Protestaktionen, aber auch der erschütternde Tod Rolf Dieter Brinkmanns in London 1975. Brinkmann wurde - 35-jährig - beim Überqueren einer Straße überfahren. Sein Freund Jürgen Theobaldy befand sich nur wenige Schritte entfernt.

Man hat kaum den Eindruck, dass hier jemand nach einer Stimme sucht; sie scheint schon von Anfang an da zu sein, auch wenn sie sich im Lauf der Jahre verändert. Die Einfachheit der Gedichte, die Theobaldy zunächst anstrebt, bleibt, und doch werden sie im Laufe der Zeit vielschichtiger, die Bilder wundersamer oder verwunderter, die Inspirationsquellen sprudeln aus anderen Zeiten und Welten. Und doch ist da immer ein konzentrierter Minimalismus.

Japan wird zusehends zum wichtigen Fokus, und auch die Formen japanischer Dichtung wie etwa das Haiku, das Theobaldy stimmig für sich nutzt, sind erkennbar. Wie überhaupt eine fernöstliche Gestimmt- und meditative Gelassenheit einzukehren scheinen. „Mit zunehmendem Alter, / gelegentlich sechzig, / kürzen wir die Wege ab.“

In den letzten Veröffentlichungen strebt das Gedicht bei Theobaldy nicht nur ins Weite, „ins Freie“, wie es in einem frühen Text heißt; sondern auch in die Länge. Über mehrere Seiten folgt er seinen Gedanken, verfolgt er Begebenheiten zurück zu ihren Bedeutungskernen, den Gefühlen bis hinein in die kleinsten Verästelungen. „Die Jahre öffnen mir die Hand“ heißt das letzte, neun Seiten umfassende Gedicht, das in die Auswahl aufgenommen wurde. „Komm nicht wenn ich sterbe rufe ich ich möchte nicht/ Dass ein Blatt sich wegdreht von der Sonne/ Es liebt es dort.“ So endet der Band, elegisch und mit einem wunderbar tröstlichen Bild.

Jürgen Theobaldy: Nun wird es hell und du gehst raus. Ausgewählte Gedichte. Mit einem Nachwort von Helmut Böttiger. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 293 Seiten, 29 Euro

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