Weinheim. Wer schreibt und daran Freude hat, hört nicht aus Altersgründen damit auf. Und was weiterhin geschrieben wird, das kann, sofern es dem Schreibenden gefällt und veröffentlicht wird, ein doppeltes Geschenk sein, nämlich fürs Lesepublikum wie die Autoren. Das ist auch bei der Weinheimer Erfolgsschriftstellerin Ingrid Noll nicht anders. Ihr jüngster Roman ist gar ein leicht vorgezogenes Geburtstagsgeschenk an sich selbst, denn Ende September wird sie 90 Jahre alt.
Erst anderthalb Jahre ist es her, dass Nolls „Gruß aus der Küche“ erschien, nun folgt als weiterer Gang der Roman „Nachteule“. Nicht nur im Verhältnis zum vorherigen Buch fällt auf, dass die Protagonistin hier ungewöhnlich jung ist, ein Teenager, entworfen von einer Schriftstellerin, die deren Urgroßmutter sein könnte. Die besondere Menschlichkeit und Menschenkenntnis dieser Autorin gestattet es ihr, sich auch überzeugend in die Figur der Luisa Müller hineinzuversetzen, die zwar einen Allerweltsnamen trägt und nicht zuletzt altersgemäße Schwierigkeiten zu bewältigen hat, aber gewiss keine ganz alltägliche Person ist.
Hauptfigur steht nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens
Wie so viele Hauptfiguren der Ingrid Noll steht auch Luisa nicht unbedingt auf der Sonnenseite des Lebens. Zwar liest man zunächst von (noch) intakten Familienverhältnissen, einem Leben in Wohlstand im hübschen Haus bei gutverdienenden Eltern. Aber Luisa wurde als Kleinkind adoptiert, hat indigene, peruanische Wurzeln, was in mehrfacher Hinsicht zur Selbstwahrnehmung führt, ein wenig anders zu sein und so gesehen zu werden. Regelrecht gemobbt wird sie nicht, aber dass Mitschüler sie „Inka-Prinzessin“ nennen, kommt schon vor. Ungewöhnlich ist Luisa auch wegen eines besonderen ihrer Talente: Sie kann im Dunkeln (gut) sehen, weshalb sie ihr Vater mit dem titelgebenden Vogel vergleicht und liebevoll-ironisch „mein Nachteulchen“ nennt.
Eine weitere Verkleinerungsform, die der nicht sehr hochgewachsenen Luisa leichtes Unbehagen bereitet, stammt von einem geheimnisvollen jungen Mann, der sich Tim nennt und dem sie mehrfach behilflich ist, indem sie ihm Schlafplätze und Essen besorgt. „Engelchen“ nennt er sie, was Luisa auch als verbale Liebkosung versteht. Doch tatsächliche, handgreifliche von ihm wären ihr viel lieber. Dass er sehr egoistisch ist und sie vertröstet mit verräterischen Aussagen wie etwa, er werde sich bald wieder von ihr verwöhnen lassen, erkennt sie zu spät. Aber immerhin möchte Luisa ja Sozialarbeiterin werden, und da kommt der leider kriminelle Tim gerade recht, um sich in dem künftigen Beruf ein wenig auszuprobieren.
Erfolgsautorin Ingrid Noll
- Ingrid Noll wurde 1935 in Shanghai geboren . Sie studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte und lebt seit langem in Weinheim. Nachdem ihre drei Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie Krimis zu schreiben, die zu Bestsellern wurden. Einige davon sind auch verfilmt worden, zum Beispiel „Die Apothekerin“ mit Katja Riemann.
- Ihr erster Roman „Der Hahn ist tot“ erschien 199 1. Vor dem aktuellen Buch ist vor anderthalb Jahren der Roman „Gruß aus der Küche“ erschienen.
- 2019 hat sie die Mannheimer Polizei zur „Ehrenkriminalhauptkommissarin“ ernannt. Seit 2021 gibt es in Weinheim den Ingrid-Noll-Weg mit 13 Stationen in der Innenstadt. ()
Beim Stichwort Kriminalität wird ebenfalls deutlich, dass sich die Autorin auf vertrautem Terrain bewegt. Gewaltsame Tode sind seit den höchst erfolgreichen Anfängen mit Romanen wie „Der Hahn ist tot“ (1991) oder „Die Apothekerin“ (1994) in Nolls Büchern zwar seltener geworden, aber einen erlebt man hier doch mit – und von weiteren hört man immerhin. Und wieder begegnet das Personal des Noll-typisch ironisch-pointiert geschriebenen Buches einer solchen Tat nicht mit Mitleid und Entsetzen vor allem, sondern eher gehässig. Aber klar, die Nachbarin Frau Müller-Waldau ist auch wirklich eine unsympathische Person gewesen, da sind sich nicht nur Luisas Eltern einig. Und Ingrid Noll schreibt zwar humorvoll mit schwarzer Note und unterhaltsam flott, findet ihre Stoffe aber noch immer bevorzugt im Allzu-Menschlichen.
Und die Moral? Sie wird auf einer zweiten Ebene eigens thematisiert. Denn ganz lauter und aufrichtig ist auch in Luisas Familie niemand; sprechend dabei das Aufsatzthema, das Luisa auch gleich für ihren Mitschüler Noah miterledigt: „Soll man immer die Wahrheit sagen?“ Anders gefragt: Wie viel Lüge ist erlaubt? Luisas Vater meint dazu nur knapp, nicht gleich die Wahrheit zu sagen, sei ja noch keine Lüge. Er weiß, warum er so argumentiert. Und bald wissen es auch seine Frau und Tochter, was dem ohnedies etwas brüchigen Familienfrieden nicht gut bekommt.
Autorin spiegelt in Zitaten den Wandel der Zeiten
Leitmotive verwendet Ingrid Noll in bewährter Form. Waren es früher oft welche aus klassischen Märchenstoffen, so sind es jetzt mehr oder weniger zeitlose Sprichwörter und einige (klassische) literarische Zitate. Die meisten davon nutzt Luisas Mutter, die auf Bildung hält; und wie früher schon dient diese Ebene dazu, den Wandel der Zeiten und Wechsel der Generationen zu spiegeln.
Ohne zu viel zu verraten, darf man übrigens sagen, dass Luisa noch einen besseren Freund als den angeblichen Tim findet. Noah, der Mitschüler, ist nämlich schon in der Vorrede als ihr Freund und Lebenspartner erwähnt. Durch diese wird die folgende Erzählung als Rückblende kenntlich. Luisa, die inzwischen doch Medizin studiert, erinnert sich an prägende Geschehnisse, als sie 15 war und mitten in der Pubertät.
Nolls Buch, das einmal mehr gekonnt Zeittypisches mit Überzeitlichem kombiniert, ist auch eine unkonventionelle Emanzipationsgeschichte. Die Selbstermächtigung, von der sie erzählt, plädiert auch für Vielfalt und Menschlichkeit überhaupt. Und auch das wird deutlich: Mit annähernd 90 Jahren ist Ingrid Noll noch auf der Höhe ihrer Kunst. Dass ihre Hauptfigur so jung ist, macht das umso deutlicher.
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